21. Filmfest Schleswig-Holstein 2017
Die Fabel vom Kashmir-Wolf und der grünen Fee
„Wolf and Sheep“ (Shahrbanoo Sadat, Afghanistan 2016)
In der Nacht, wenn das Dorf schläft, schleicht sich der Kashmir-Wolf auf zwei Beinen aufrecht gehend an die Schafherde. Er ist es, der die Tiere reißt und frisst. Doch in einer Nacht konnten die Dorfbewohner den Wolf stellen. Beim Versuch, das magische Tier zu halten, rissen sie ihm das Fell herunter. Eine grüne Fee verbarg sich darunter, die entkam und seitdem alleine durch die Berge wandelt.
So erzählt es der alte Mann den Kindern, die tagsüber die Schafe und Ziegen hüten. Eine Legende, die vor dem Raubtier warnt und zugleich die Angst nimmt: Dem Wolf ist beizukommen. Und letztendlich steckt in seinem Fell eine grüne Fee.
Mit „Wolf and Sheep“ hat das Filmfest Schleswig-Holstein einen Cannes-Preisträger in sein Programm gesetzt. Die 26-jährige afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat gewann im letzten Jahr mit ihrem Debüt als Spielfilmregisseurin den Art-Cinema-Preis in der „Quinzaine des Réalisateurs“-Sektion. Ihr Film über eine Dorfgemeinschaft in einer abgelegenen Bergregion Afghanistans wurde unter erschwerten Bedingungen produziert: Die Dreharbeiten fanden zur Sicherheit für die überwiegend ausländische Crew im benachbarten Tadschikistan statt, die authentischen Amateur-Darsteller wurden für die Dreharbeiten ebenfalls außer Landes gebracht. Das internationale Projekt wurde zu einem guten Teil durch Crowd-Funding finanziert.
Authentische Laien-Darsteller zeigen das alltäglichen Leben in Zentral-Afghanistan
Regisseurin Shahrbanoo Sadat wuchs selbst in einem isolierten Dorf in Zentral-Afghanistan auf und hat daher ein sicheres Gespür für ein authentisches Setting und das alltägliche, ländlich-karge Leben. Die lichtdurchflutete, sand-beige Bergwelt, die von Sadat selbst entworfenen Dorfbauten und die Dorfbewohner, die in ihren eigenen, farbenfrohen Kleidern ein kleines Tal bevölkern, sorgen für eine unmittelbares Vor-Ort-Gefühl, eine wesentliche Attraktion des Films. Sadat, die in ihrer Jugend wegen starker Kurzsichtigkeit und eines fremden Akzents als Außenseiterin behandelt wurde, beschäftigt sich in „Wolf and Sheep“ auf mehreren erzählerischen Ebenen mit eben diesem Ausgrenzen und Ausgegrenzt-Sein.
Die Dorfgemeinschaft selbst ist wie vom Rest der Welt abgeschottet, fast wie aus der Zeit gefallen. Jeder weiß über jeden Bescheid, und alle persönlichen Angelegenheiten werden ausgiebig diskutiert. Die Frauen kochen zusammen und trocknen Dungfladen an den Häuserwänden als Brennstoff für die kalten Nächte. Die Männer vollziehen Beerdigungsriten und kümmern sich um die Viehzucht. Bereits die Kinder übernehmen wichtige Aufgaben und sind oft beim täglichen Viehauftrieb auf sich gestellt in den Bergen unterwegs. Dabei gilt immer, dass Jungen und Mädchen nicht zusammen sein dürfen. Eine kleine Gruppe von Mädchen treibt ohne Begleitung von Erwachsenen die Schaf- und Ziegenherde zu den entfernt liegenden Weidegründen. Die Jungs aus dem Dorf vertreiben sich die Zeit, während die Tieren grasen, mit dem Üben von Steinschleudern, der einzigen Waffe gegen Wölfe, die es auf die Schafe und Ziegen abgesehen haben.
Freundschaft zwischen Ausgestoßenen: Qodrat und Sediga (Qodratollah Qadiri und Sediqa Rasuli)
In dieser kleinen, aufeinander angewiesenen Gemeinschaft wiegt es umso schwerer, wenn man aus ihr verstoßen wird. Regisseurin Sadat wurde wegen ihres Großvaters gemieden, dem man seherische Fähigkeiten nachsagte. Dieses Schicksal spiegelt sich in der Figur der Sediga, die die anderen Mädchen für verflucht halten, weil ihre Großmutter angeblich eine Schlange an ihrer Brust aufzog. Dem Alleinsein kann Sediga für einen Augenblick entkommen, als sie in den Bergen auf den gleichaltrigen Jungen Qodrat trifft, der nach dem Tod seines Vaters zum Außenseiter wurde, da der neue Ehemann seiner Mutter ihre Kinder nicht annehmen will. Für eine kurze Zeit können die beiden ihren Weg gemeinsam gehen und kleine Abenteuer erleben.
Shahrbanoo Sadat gewährt uns in „Wolf and Sheep“ überraschende Einblicke in die fast vergessene Welt abgeschotteter Dorfgemeinschaften in Afghanistan. Die Dorfbewohner sind in ihrem entbehrungsreichen, harten Leben aufeinander angewiesen und wissen umeinander Bescheid bis ins letzte Detail. Sie haben ihre eigenen Erzählungen und Legenden erfunden und sprechen untereinander auf Recht. Erstaunlicherweise spielt die Religion dabei keine vordergründige Rolle, sondern eher ein archaischer Pragmatismus. Das wird deutlich, als ein Vater dem anderen das beim Steinschleudern erblindete Auge des Sohnes in Form von Schafen und einem Rindvieh wiedergutmachen muss.
Die grüne Fee als Symbol weiblicher Stärke und Unabhängigkeit
Die faszinierende Landschaft und Folklore Zentral-Afghanistans lenken aber nicht davon ab, dass Sadat eine universelle Geschichte erzählen will. Selbst die kleinste Gemeinschaft kann nicht ohne „Du bist nicht wie wir“-Ausgrenzung auskommen. In einer solch harten, lebensfeindlichen Umgebung kann Ausgrenzung gar fatale Folgen haben. Wer das übersteht, zudem noch als Frau, der lässt sich vielleicht nicht mehr so leicht einschüchtern und ist in der Lage, seinen Weg auch alleine zu gehen. So wie die grüne Fee, die alleine durch die Bergwelt wandert und an den Hütten der Dorfbewohner nicht mehr halt macht. Shahrbanoo Sadat, die sich als junge Regisseurin in einem Land behaupten muss, dass Frauen keine Gleichberechtigung zubilligt, hat dieses Fabelwesen in ihrem Film zu einen Symbol weiblicher Stärke und Unabhängigkeit gemacht. (dakro)
„Wolf and Sheep“, D/DK/F/Schweden/Afghanistan 2016, 86 Min., Digitalprojektion; Regie & Buch: Shahrbanoo Sadat; 86 Minuten; Virginie Surdej; Schnitt: Alexandra Strauss; Ton: Sigrid Dpa Jensen; Sound-Designer: Thomas Jaeger, Thomas Arent; Darsteller: Sediqa Rasuli, Qodratollah Qadiri, Amina Musavi, Sahar Karimi, Masuma Hussaini, Mohammad Amin, Qorban Ali, Ali Khan Ataee