Doppelte Reflektion
„Reflections“ (Sara Broos, SWE 2016)
Wenn die eigenen Eltern das Seniorenalter erreicht haben und man selbst einige Lebenserfahrung gesammelt hat, beginnt man, seine Jugend und die oft schmerzlich ausgefochtenen Positionen im Generationenkonflikt mit anderen Augen zu betrachten. Man möchte den Eltern jetzt die Fragen stellen, die man sich damals nicht traute. Oder jene, die einem gar nicht in den Sinn kamen, weil die beschränkte eigene Perspektive eine objektive Sicht auf die Dinge verstellte. Selten aber setzt man dieses Vorhaben tatsächlich um. Langes Schweigen ist schwer zu brechen, alte Wunden könnten aufreißen, oder es ist zu befürchten, dass sich die Tür zu einem neuen gegenseitigen Verstehen eben doch nicht öffnet.
Die schwedische Regisseurin, Video-Künstlerin und Produzentin Sara Broos wagt diesen Versuch eines späten, versöhnlichen und offenen Dialogs mit ihrer Mutter Karin, einer bekannten schwedischen Malerin, und dokumentiert den Prozess in ihrem intimen, künstlerisch ambitionierten Film „Reflections“ (Originaltitel „Speglingar“, SWE 2016).
Als Karin 60 Jahre alt wird, bucht ihre Tochter Sara eine Reise zu einem Wellness-Resort in Jurmala, Litauen. Sie erhofft sich Zeit für Gespräche über die Jugend ihrer Mutter während dieses ersten gemeinsamen Mutter-Tochter-Urlaubs. Karin nimmt Sara aber fast nur durch das Objektiv ihrer Fotokamera wahr, sie meidet das Gespräch. Die Aufmerksamkeit der Mutter liegt eher bei allem anderen, was um sie herum passiert und als Fotomotiv interessant sein könnte. Später wird Karin die Fotos in Ölgemälde umsetzen, wie sie es schon so oft mit den Fotografien ihrer Kinder und Enkel gemacht hat.
Mutter und Tochter haben zwar keine offenen Konflikte und scheinbar keine tiefen Traumata zu verhandeln. Aber die Tochter empfindet ein zähes Schweigen und vermutet Unausgesprochenes, möchte daher ihre Mutter bewegen, von sich zu erzählen. Sie gibt nicht auf und beginnt ein sehr persönliches Dokumentarfilmprojekt. Nur sehr zögerlich und erst einige Zeit nach dem gemeinsamen Urlaub beginnt Karin sich zu öffnen; bruchstückhaft sind ihre Erinnerungen. Karin war ein Teenager im Malmö der 60er Jahre, dort experimentierte sie mit milden Drogen. Für die flüchtigen Beziehungen mit Männern legte sie sich jedes Mal neue Spitznamen zu, entlehnt aus den Songs von Bob Dylan oder Leonard Cohen. Als Teenager hatte Karin mit Bulimie zu kämpfen, ohne zu wissen, dass es diese Krankheit überhaupt gibt. Das Alter zwischen 17 und 21 Jahren war für sie die reine Hölle. Erst als Karin an die Kunstakademie kam, erkannte sie, dass ein strukturiertes Leben ihr Halt gibt. Die Angst vor einem Rückfall begleitet sie aber bis zum heutigen Tag.
Auch Tochter Sara litt in ihren Teenager-Jahren an Bulimie. Für sie war das Hungern eine Möglichkeit, ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben zu haben. Doch ihre Minderwertigkeitsgefühle behielten die Oberhand, und Sara blieb für viele Jahre in der Krankheit stecken. Wie die Mutter musste sie sieben Jahre mit der Krankheit kämpfen. Erstaunlicherweise hatte selbst die Mutter die Krankheit ihrer Tochter nicht erkannt. Zu erfolgreich war und glücklich schien die junge Schriftstellerin Sara Broos.
Die bisher unausgesprochenen, erstaunlichen Parallelen in der Jugendzeit von Mutter und Tochter lassen die beiden Frauen einander näher kommen. Lange verschwiegene, schmerzliche Erinnerungen kommen an die Oberfläche. So war das zunächst idyllische Hippie-Familienleben der jungen, dreiköpfigen Familie in Schweden Anfang der 70er Jahre überschattet vom Tod der ungeborenen Schwester in den späten Schwangerschaftsmonaten. Die Mutter verschloss sich damals in ihrer Trauer, reagiert aggressiv und abweisend. Die junge Sara wird jahrelang nicht verstehen, was aus der Schwester im Bauch der Mutter wurde.
„Reflections“ erzählt nicht nur die Parallelen in den Biografien von Mutter und Tochter, sondern bringt auch die Ähnlichkeiten ihrer emotionalen Entwicklung und ihre lebenshungrigen Naturen zum Vorschein. Die Kenntnis voneinander und das Verständnis füreinander wachsen. Sara Broos wählt für dieses sehr persönliche doppelte Frauen-Portrait die Form des essayistischen Dokumentarfilms. Der künstlerische Akt des filmischen Beobachtens sowie ihre Objekte sind dabei weitere Parallelen zwischen den beiden Künstlerinnen. Während die Mutter ihre Familie fotografisch festhält, um sie dann in Ölbildern wieder zum Betrachten freizugeben, arbeitet ihre Tochter auf sehr ähnliche Weise mit der Kamera. Dabei findet Sara Broos immer wieder sehr starke Bilder, die das Gesagte und Erzählte visualisieren: Die Milchtropfen aus einer weiblichen Brust sind gleichzeitig die Tränen, die unsichtbar um die ungeborene Tochter vergossen werden.
Das doppelte Experiment einer Annäherung zwischen Mutter und Tochter und die filmische Dokumentation in einem ungewöhnlichen formalen Stil sind geglückt. „Reflections“ erzählt auf sehr einfühlsame und visuell anregende Art von zwei lebenshungrigen, sensiblen Frauen, die Rückschläge und emotionale Tiefen durchleben mussten. Mit den Protagonistinnen entdeckt man erstaunliche Spiegelungen in Charakter und Lebensschicksal. Darin liegt mindestens ein gewisser Trost. (dakro)