66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016

Vom Sieg des Dokumentarischen

Rückblicke auf den Wettbewerb

Ein Dokumentarfilm über die Flüchtlingsproblematik am Mittelmeer gewinnt den Wettbewerb der 66. Berlinale 2016. Was sagt uns diese Nachricht über das Festival? Zum einen, dass das Filmfestival (nicht nur) mit dieser Entscheidung seinem Ruf, ein politisches zu sein, treu geblieben ist. Was aber keine erstaunliche, sondern erwartbare Erkenntnis ist. Dass aber ein italienischer Dokumentarfilm, „Fuocoammare“ von Gianfranco Rosi, und sei er noch so gelungen und aktuell, im Wettstreit gegen 16 Spielfilme (und einen weiteren Dokumentarfilm) verdientermaßen einen im Grunde genommen traditionellen Spielfilmwettbewerb gewinnt, der in den 65 Jahren zuvor noch nie einen Dokumentarfilm als Sieger hatte, sagt schon einiges aus über die Auswahl für die „Premiumsektion“ des Festivals und vielleicht ebenso über den momentanen Zustand der internationalen Produktion – jedenfalls über die Produktionen, die für die Berlinale zu bekommen sind. Es gab unter den Spielfilmen im Wettbewerb keinen Ausreißer nach oben oder nach unten: gediegenes Mittelmaß mit einigen Hinguckern, sowohl inhaltlich wie auch ästhetisch betrachtet, und einigen Enttäuschungen.
Großes Erzählkino gibt es schon seit einigen Jahren kaum an dieser Stelle. Die Filmepen kommen heutzutage als Serien daher und laufen im Fernsehen, sind als DVD-Kollektionen zu haben oder auch im Internet, das mit Streaming-Diensten wie Netflix oder Prime von Amazon dabei ist, Kino und Fernsehen den Rang abzulaufen. Vorbei die Zeiten von Filmen wie „Out of Africa“, „Der Pate III“, „Heaven’s Gate“, „Schweigen der Lämmer“ oder „Thin Red Line“, um nur einige Beispiele großer Berlinale-Filme zu nennen. Bleiben der Leinwand also bloß noch Filme wie „Star Wars“, „James Bond“ oder „The Revenant“ und den großen Festivals wie der Berlinale kleine intelligente Filme wie die Gewinner des Goldenen Bären aus dem Iran in den letzten Jahren oder „Unterhaltungsklamotten“ wie der diesjährige Eröffnungsfilm der Coen-Brüder „Hail, Ceasar!“ oder Spike Lees „Chi-Raq“ (beide außer Konkurrenz im Wettbewerb) und eben Dokumentarfilme, die eigentlich auch eher beim Fernsehen beheimat sind?
„Fuocoammare“ („Feuer auf See“), der Gewinner des Goldenen Bären, kontrastiert das dramatische Rettungsgeschehen auf dem Mittelmeer, bei dem es um Leben oder Tod für die von Schleppern dem Unbill des Meeres völlig schutzlos ausgelieferten Flüchtlinge nach Europa geht, mit Alltagsgeschehen und -bildern der Bewohner Lampedusas, welche Not und Tragik der Ereignisse vor ihrer Insel so gut wie ausgeblendet zu haben scheinen, was natürlich auch Schnitt und Dramaturgie des Filmes geschuldet ist. Natürlich haben alle Inselbewohner Kenntnis von dem tragischen Geschehen, das sich auch gerade auf ihrem Eiland abspielt. Oder will uns irgendjemand weißmachen, dass Elend und Tod von so vielen dort niemand interessiert? Aber es gehört nicht zum Konzept von Filmemacher Gianfranco Rosi. So folgt der Film auf der Insel in erster Linie dem Alltag des 12-jährigen Samule, seinem täglichen Leben und kindlichem Spiel in der wilden mediterranen Natur. Der Junge möchte Großvater und Vater nacheifern und Fischer werden. Der Film begleitet Samule, sieht ihm zu bei Holzschleuderjagd, Spaghetti-Schlürfen und altklugem Gespräch mit dem Inselarzt.
Szene aus „Fuocoammare“ (Foto: Berlinale)
Kommentarlos gewinnt Regisseur Rosi der Banalität dieses Alltags seine sympathischen, ja auch komischen Seiten ab. Eine heile Inselwelt, in der man den Fischern Glück und einen guten Fang mit einem Radiogruß wünscht und dazu den Nachkriegsschlager „Fuoco a mare“ (Feuer auf dem Meer) auflegen lässt. Ein unbeschwertes Leben, das von Tragik und Trauer nichts zu wissen scheint. Kein Inselbewohner wird im Film berührt von den dramatischen Ereignissen, die sich draußen vor der Insel auf dem Meer abspielen, außer dem Inselarzt. Er, der einzige Arzt auf der Insel, markiert vollkommen unaufgeregt die Schnittstelle zwischen Inselleben und Flüchtlingsdrama, ist mit beiden Welten bekannt. Neben seiner Praxis hat er mit den Opfern zu tun, wenn sie überleben oder nur tot dem Meer entkommen. Dort kämpfen die Besatzungen der Marineschiffe um von der Flucht Gezeichnete, von denen etliche dann doch noch verlieren und an totaler Erschöpfung, Dehydrierung und anderem sterben, obwohl sie zuvor noch lebend auf die Rettungsschiffe gebracht wurden. Ganz zu schweigen von den vielen Leichnamen, die aus dem kaum hochseetauglichen Booten geborgen werden, oder den Ertrunkenen, deren hohe Zahl man aus den Nachrichten kennt.
„Fuocoammare“ erreicht seine Alleinstellung in der anschwellenden Zahl an Dokumentationen und Reportagen über die Flüchtlingstragödie am und auf dem Mittelmeer durch die erstaunlich unaufgeregte Darstellung eines fast berührungslosen Nebeneinander zwischen geordnetem, ruhigem Normalleben der Inselbewohner und dem dramatischen Kampf um Leben und Tod draußen auf See. Eindrucksvoll wird der Einsatz der Retter dargestellt, die ihre Arbeit professionell mit erstaunlicher Routine und Ruhe durchführen. Auch das zeigt dieser außerordentliche Dokumentarfilm, wobei man wie gesagt das Inszenierte des Inselalltags für den Film nicht außer Acht lassen sollte.
Der einzige deutsche Film im Wettbewerb war ein vermeintlicher Problemfilm, dem aber schon im Vorfeld der Ruf voraus ging, Qualität zu haben. Anne Zohra Berrached hatte ihren Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, „24 Wochen“, für die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ angemeldet, die dem deutschen Nachwuchs bzw. Filmstudenten vorbehalten ist: Doch Festivalleiter Dieter Kosslick holte diese Geschichte eines Paares im Konflikt um ein zukünftiges, schwer behindertes Kind auf die internationale Rampe ins Hauptprogramm.
Mit wenigen Szenen wird der Anfang des Konflikts entworfen. Astrid (Julia Jentsch) ist Kabarettistin voller Hingabe an ihre Kunst, ihr Mann Markus (Bjarne Mädel) managet sie routiniert. Das Leben beider, das durch Astrids Bekanntheit auch ein öffentliches ist, verläuft in festen Bahnen zwischen Kleinfamilienleben (sie haben ein Kind) und regelmäßigen Auftritten. Während Astrids zweiter Schwangerschaft wird beim Fötus Trisomie 21 festgestellt. Nach anfänglicher Irritation entscheiden Astrid und Markus gemeinsam, das Kind zu bekommen. Der Film schildert nun die verschiedenen Stationen ihres Umgangs mit der Situation, die zusätzlich an Problematik gewinnt, weil die ungewöhnliche Herausforderung des Paares öffentlich wird und die Medien Astrids Entscheidung für ein behindertes Kind als vorbildlich propagieren. Anfängliche Zuversicht und vorgebliche Gelassenheit beider werden auf eine harte Probe gestellt, je weiter die Schwangerschaft fortschreitet und um so erkennbarer der Grad der zukünftigen Behinderung des Kindes wird. Der Gewissenskonflikt, ein schwer behindertes Kind zur Welt zu bringen oder die Schwangerschaft im sechsten Monat abzubrechen, spitzt sich unausweichlich zu. Im Widerstreit zwischen Diagnosen und Ratschlägen um das Für und Wider einer Spätabtreibung scheiden sich beider Einstellungen, wird die ganze Ehe in Frage gestellt. Markus verliert den Einfluss auf seine Frau, Astrid entzieht ihm die Kompetenz, mit zu entscheiden. Sie erkennt, dass weder medizinischen Ratschläge noch Statistiken und Prognosen sie von ihrer alleinigen Verantwortung und Entscheidung entbinden können.
Julia Jentsch in „24 Wochen“ (Foto: Friede Clausz – zero one film)
„24 Wochen“ versucht das Kunststück, einen Spielfilm mit tragischem Geschehen auf Grundlage genauer und ausführlicher Recherche sachlich fundiert zu gestalten. Dem emotionalen Durchleben dieser außergewöhnlichen Konfliktsituation wird eine dem Dokumentarischen anverwandte Darstellung der medizinischen Untersuchung und diagnostischen Analyse mitgegeben. Das Presseheft spricht von Hyperrealismus und meint damit, dass das medizinische Fachpersonal tatsächlich von einem solchen in typischen Situationen realistisch dargestellt wird. Die Sachlichkeit dieser Szenen lässt alles Ausgedachte vergessen. Es wird dann nicht mehr eine Geschichte im Spiel erzählt, sondern ein Tatbestand nach- bzw. dargestellt. So gibt der Film besonders im zweiten Teil über weite Strecken seine fiktionale Ebene an eine dokumentarische Anmutung ab. Das verleiht der Diskussion um einen sehr späten Schwangerschaftsabbruch, der vom Gesetzgeber aufgrund der im Film geschilderten Indikationen gestattet wird, eine besondere Tiefe und Ernsthaftigkeit.
Nachdem Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ (niedergeschrieben 1947 in einem Schaffensrausch des Autors in der kurzen Zeit von nur vier Wochen) 2009 zum ersten Mal ins Englische übersetzt worden war, wurde daraus, angeschoben durch die New York Times, binnen kurzer Zeit ein internationaler Bestseller, der besonders im angelsächsischen Raum durch die Schilderung des Alltags der so genannten „Kleinen Leute“ eine überraschte und faszinierte Leserschaft fand. Man entdeckte, dass es neben den Klischee-Nazies noch ganz andere, „normale“ Leute in Deutschland gegeben haben musste, die trotz Gängelung und ständiger Kontrolle ihren Alltag in der NS-Diktatur zu leben versuchten, ja sogar bisweilen einen naiven, aber mutigen Widerstand gegen das Regime entwickelten.
Mit dem Bucherfolg im Rücken entstand mit der deutsch-französisch-britischen Koproduktion „Alone in Berlin“ unter der Regie von Vincent Perez die nunmehr fünfte Verfilmung dieses „Widerstandsromans“, wie Fallada ihn selbst nannte. Sie erzählt die auf tatsächlichen Begebenheiten beruhende Geschichte eines im Prenzlauer Berg lebenden Arbeiterehepaares Quangel (Brendan Gleeson und Emma Thompson), das seinen einzigen Sohn im Frankreich-Feldzug verliert und, vom Glauben an den „Führer“ abgekommen, beginnt, Postkarten zu schreiben und in ganz Berlin abzulegen, auf denen zum Widerstand gegen Hitler aufgerufen wird. Mit dieser an sich nur wenig erfolgreichen, aber lebensgefährlichen Aktion, der im Grunde genommen nur ein symbolischer Erfolg beschieden ist, schaffen es die Quangels, Heerscharen von Gestapo und SS über geraume Zeit in Trab zu halten. Und das mit ein paar Hundert Postkarten, die Otto Quangel zumeist in Hauseingängen und Treppenhäusern platziert und von denen die meisten bei der Polizei abgegeben werden und nur ein paar nicht wieder auftauchen. Schließlich werden beide entdeckt und mit dem Fallbeil hingerichtet.
Die Verfilmung des Weltbestsellers „Jeder stirbt für sich allein“ mit Brendan Gleeson und Emma Thompson (Foto: Berlinale)
Bedacht mit reichlich deutschen und europäischen Filmfördergeldern, hätte man so etwas früher „Euro-Pudding“ genannt. Die Geschichte hat durchaus ihren Reiz, und neben den beiden genannten Darstellern tut sich Daniel Brühl in einer weiteren Hauptrolle als Kommissar Escherich besonders hervor, der letztlich an seiner eigenen Rigorosität zu Grunde geht. Allein, das uninspirierte lineare Erzählen der Geschichte von A nach B nimmt der Dramatik doch einiges an Spannung. Auch sind die Charaktere ziemlich eindimensional und klischeehaft angelegt. Nur die Figur des Kommissars Escherich zeigt Brüche. Hinzu kommt die leider nicht abzustellende Unart, dass bei englisch-sprachigen Filmen, die in Deutschland spielen, alle mit deutschem Akzent sprechen müssen, was natürlich den deutschen Darstellern entgegen kommt, aber dennoch albern ist. Besonders, wenn man zuhören muss, wie sich Emma Thompson und Partner mit dem „germanischen Idiom“ abmühen, was auch noch von der Handlung ablenkt. So hat „Alone in Berlin“ seine Platzierung im Wettbewerb eher dem Thema und seiner deutschen Produktionsgeschichte zu verdanken (er wurde komplett in Deutschland mit einem überwiegend deutschem Team gedreht). Denn zu sehen war letztlich ein eher braver Film, der mit seiner traditionellen Erzählweise mehr an Schulfunk erinnerte, als dass er ein Aufreger für den Wettbewerb hätte sein können. (Helmut Schulzeck)
„Fuocoamare“, I/F 2015, 108 Min., Regie: Gianfranco Rosi.
„24 Wochen“, D 2016, 102 Min., Regie: Anne Zohra Berrached
„Alone in Berlin“, D/F/GB 2016, 103 Min., Regie: Vincent Perez
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