65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015

Geburtsstunde des BRD-Terrorismus

„Eine deutsche Jugend“ (Jean-Gabriel Périot, FR/D/CH 2015)

Einen ungewöhnlichen, aber erstaunlich prägnanten und effektiven Ansatz wählte Videokünstler Jean-Gabriel Périot für seinen ersten Langfilm. Der Franzose arbeitet in seinen Kurzfilmprojekten gerne mit Found Footage. So auch jetzt in der Dokumentation „Eine deutsche Jugend“, in der er mit Hilfe von überwiegend Fernsehmaterial und studentischen Kurzfilmen die Geburtsjahre und das intellektuelle Milieu des RAF-Terrorismus Mitte/Ende der 60er Jahre aufleben lässt.
Erstaunlich für den heutigen Zuschauer, wie substantiell in den 60ern im Fernsehen politisch diskutiert wurde. Da vertritt eine junge, kettenrauchende Journalistin vor offensichtlich etablierten Kollegen sozialistische bis kommunistische Thesen und argumentiert den grauen Eminenzen mit unglaublicher Selbstsicherheit den Schneid ab. Kein Wunder, dass die junge Bundesrepublik von Ulrike Meinhof fasziniert war. Unter ihrer Chefredaktion wurde das Magazin „konkret“ zum Leitmedium der politischen Linken. Heute eher in Vergessenheit geraten oder vielleicht auch verschämt verschwiegen sind zahlreiche Fernsehreportagen Meinhofs, die Périot auszugsweise montiert. In diesen Beiträgen wird bereits Meinhofs Sprachgestus deutlich, der sich in ihren späterem, immer weiter verschärfenden, zu Aktionen aufrufenden Ansage-Stil ausbildet: „… und natürlich darf geschossen werden.“ Was so lapidar klingt, ist die Schnittstelle zwischen politischer Diskussion und gewalttätiger Aktion mit äußersten Mitteln.
Als die bundesdeutsche Jugend die rote Fahne schwang … (Foto: Berlinale)
Doch zunächst montiert Périot in streng chronologischer Reihenfolge äußerst sorgsam recherchierte Bilddokumente: Die Eröffnung der DFFB durch Bürgermeister Willy Brandt, hitzige Straßen-Diskussionen zwischen linken Studenten und aufgebrachten Senioren mit Wehrmachtserfahrung, politische Happenings an der TU Berlin mit Andreas Baader oder studentische Kurzfilme u.a. des DFFB-Studenten Holger Meins. Der filmt mit seiner studentischen Arbeit „Farbtest Rote Fahne“ einen Fahnenlauf durch Berlin und liefert damit vielleicht das passendste Bild einer leidenschaftlich links-engagierten Studentenschaft, die in allen Bereichen des intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens auf Veränderung drängte.
Als die sich nicht einstellte, wurden die Aktionen langsam aber sicher gewaltbereiter und gewalttätiger: Die „konkret“-Redaktion wurde im Rahmen einer Protestaktion überfallen. Ulrike Meinhof argumentiert vor laufender Kamera einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, man müsse bei sich selbst anfangen. Als die Redaktionsräume nicht wie geplant verwüstet werden können, reagieren sich die Protestler am Haus von Meinhofs Ex-Mann und „konkret“-Herausgeber Klaus Rainer Röhl ab. Das Private und das Politische, da kam es zusammen.
Der dritte biografische Orientierungspunkt neben Meinhof und Meins ist der junge Anwalt Horst Mahler. Ebenfalls bereits in den 60ern politisch engagiert, wird er in den 70ern die in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen im Prozess verteidigen. Bis hierhin schlägt Périot den dokumentarischen Bogen, vom anfänglichen politischen Diskurs über gewaltbereiten Aktionismus bis hin zu tödlichem Terrorismus. Die Materialsammlung macht deutlich, wie sich Begeisterung und Idealismus unmerklich und fatal in Fanatismus wandeln. Das macht „Eine deutsche Jugend“ zu einem außerordentlich aktuellen Film. (dakro)
„Eine deutsche Jugend“, Frankreich/Schweiz/ Deutschland 2015, 93 Min., DCP, Farbe. Regie, Buch: Jean-Gabriel Périot, Schnitt: Jean-Gabriel Périot, Musik: Alan Mumenthaler, Sound: Design Etienne Curchod, Mischung: Laure Arto-Toulot, Recherche: Emmanuelle Koenig-Rudiger, Produzent: Nicolas Brevière, Co-Produzenten: David Epiney, Meike Martens, Co-Produktion: Alina Film, Genf, Blinker Filmproduktion, Köln, Produktion: Local Films, Paris, Frankreich.
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