54. Internationale Filmfestspiele Berlin

Infizierende Stiche

Flammend‘ Herz (Andrea Schuler, Oliver Ruts, CH 2003)

Karl Hermann Richter ist 90 Jahre alt, hatte trotz hochherrschaftlicher Herkunft aus dem Kieler Geldadel schon als Kind „etwas für Küchenpersonal übrig“, umso weniger für Frauen, er ist schwul und ganzkörpertätowiert. Nicht minder ungewöhnlich sind „Karlmanns“ Freunde, die Tattoo-Künstler Albert Cornelissen und Herbert Hoffmann, letzterer Tätowierer-Legende aus Hamburg. Diese drei porträtiert der Dokumentarfilm „Flammend‘ Herz“ von Andrea Schuler und Oliver Ruts – kein leichtes Unterfangen, denn Filme über so genannte „Randgruppen“ haben es immer noch schwer. „Wir sind auf viel Ablehnung gestoßen“, berichtet Andrea Schuler. „Igitt, alte Leute, nackt, tätowiert“, zitiert sie die Vorurteile, die Tätowierte nach wie vor mit Knackis oder haltlosen Seeleuten assoziieren.

Doch der Körperkult mit Nadel und Farbe hat die drei Porträtierten in den Bann gezogen, ist für sie Ausdruck ihrer Persönlichkeit, gerade weil die sich nicht in bürgerliche Normen zwingen lässt. Jedes Tattoo ist ein Ausdruck des Widerstands gegen Ausgrenzung, mehr noch für eine Form der freien Entfaltung. Die Regisseure lassen das Trio erzählen. Ergebnis: Drei ganz verschiedene Menschen, die dennoch eines verbindet: das Tattoo als Zeichen für unbändige Unabhängigkeit.

Das tragen sie mit Stolz zur Schau. Schuler und Ruts interviewen ihre Protagonisten nackt, so wie Gott sie schuf – sie haben nachgeholfen, ihren Körper zur Bild- und Projektionsfläche ernannt. Zärtlich streift die Kamera in Nahaufnahme über die Häute, als wären das Leinwände im Louvre. Die Romantik, die dahinter steht, die ein flammendes Herz neben Anker und Seejungfrau stellt, wird sichtbar und erfahrbar als System der Zeichen für ein anderes, noch zu findendes Leben.

Tattoos sind längst zum Kult verkommen, zum Mode-Accessoire einer „Generation gepierct“. Doch bei diesen drei alten Männern, weil sie Vorreiter waren, haben sie noch die ursprüngliche Bedeutung, absolut unmodisch zu sein. Tätowierte sind Underground, sie wollen das oder eben nicht, aber sie infizieren den Normalbürger mit seinem Traum vom Anderssein. Für Karlmann ist es Ausdruck seiner Homosexualität, für Albert eher Decor einer heimatlosen Existenz. Der Film zeigt, wie aus „Empfängern“ von Tattoos deren Sender und Gesandte werden – in der Hamburger WG dreier Exzentriker mit Anhang in den 60er Jahren.

Tattooing wird so erfahrbar als eine Standortbestimmung Unangepasster in einer Welt der bedrängenden Anpassungsnorm. Und so gelingt eine Dokumentation der Dissidenz, der Flucht in eine Scheinwelt, die doch zur Norm des Widerständigen werden könnte. Drei alte Männer sitzen am Ende auf einer Bank an den Hamburger Landungsbrücken. Und ihr Alter strahlt jugendlichen Charme aus. So kann man erzählen, eine Geschichte der Abweichung, die das ganz normale Leben reicher macht. Dem französischen TV-Sender TV5 in Verbindung mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) war das den auf der Berlinale verliehenen Preis „Dialogue en Perspective“ wert. (jm)

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