Aufbruchstimmung

„Späte Heimat. Das Bauerbe in Tschernjachowsk“ (Gudrun Wassermann, D 2014)

„Das Erbe von Insterburg ist die Entwicklungschance von Tschernjachowsk“, sagt der deutsch-russische Architekt Dimitri Suchin am Ende des Films von Gudrun Wassermann. Dabei ist die von ihm so gepriesene kleine Siedlung „Bunte Reihe“, die vom jungen Hans Scharoun entworfen und zwischen 1921 und 1924 im ostpreußischen Insterburg errichtet wurde, für deutsche Verhältnisse auf den ersten Blick gar nicht so besonders. Gewiss, sie ist ein Frühwerk des späteren Stararchitekten Scharoun, der noch bis in die nach-adenauersche Zeit mit Bauten wie der Berliner Philharmonie Architekturgeschichte schrieb. Doch die zweigeschossigen Walmdachhäuser in Tschernjachowsk wirken mit ihren sparsam eingesetzten Schmuckformen und noch zu erahnenden Resten von farbigen Putzflächen eher unspektakulär. Wassermanns sachliche Kamera will am baulichen Zustand auch nichts beschönigen. Ähnliche Wohnzeilen aus den 1920er Jahren finden sich allenthalben in vielen brandenburgischen Kleinstädten. Das Besondere für diese gerade einmal 20 Gebäude umfassende Häuserreihe schafft erst der kulturgeschichtliche Kontext, der in Wassermanns Filmtitel „Späte Heimat. Das Bauerbe in Tschernjachowsk“ benannt wird.
„Bunte Reihe“ von Hans Scharoun, Still aus dem Film
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist durch Vertreibung der angestammten deutschen Bevölkerung und durch Zerstörung ihrer kulturellen Hinterlassenschaft in Nord-Ostpreußen eine enthistorisierte Einöde für die neu angesiedelte russische Bevölkerung geschaffen worden. Die daraus erwachsenen kulturellen (Spät-) Schäden sind den Bewohnern des Oblast Kaliningrad erst seit ein paar Jahren so richtig bewusst geworden. Gudrun Wassermann rückt der Problematik nun in ihrem Film durch geduldiges Zuhören zu Leibe. Sie bietet dafür eine beachtliche Zahl von Bewohnern Tschernjachowsks und Umgebung auf, die alle bemüht sind, ihr kulturelles Erbe zu sichern und zu bewahren. Sie haben spät (hoffentlich nicht zu spät) entdeckt, dass die deutschen Hinterlassenschaften auch einen erheblichen Teil ihrer eigenen Identität stiften können, ihnen Boden auch für ihre russischen Wurzeln bieten. So hat die späte Liebe zur vor-russischen sprich deutschen Vergangenheit eingesetzt. Allerorten bemüht man sich jetzt um die baulichen Zeugnisse dieser Zeit. Zumal die 90 km vom früheren Königsberg (heute Kaliningrad) entfernte Provinzstadt Tschernjachowsk große Teile ihrer früheren, deutschen architektonischen Struktur und baulichen Substanz bewahrt hat, wenn auch mit erheblichen Renovierungsstau.
Ein neues Heimatgefühl greift um sich. Deutsches wird nicht mehr tabuisiert und zerstört, wie es Jahrzehnte Usus war. Bis in die 1980er Jahre hinein waren die deutschen Häuser Stellvertreter für alles Böse, weiß Dimitri Suchin zu berichten. Man ging mit ihnen deshalb nicht gerade pfleglich um, selbst wenn man in ihnen wohnte. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, buchstäblich von den Landkarten als „perspektivlos“ ausradiert, wie Heimatforscher Igor Tinkowitsch erzählt. Heute findet man über weite Landstriche keine ländliche Bausubstanz deutschen Ursprungs mehr. Eine tragische Ironie des Schicksals. Dabei war erst 1915/16 das, was später als gemeinhin gewachsene ostpreußische ländliche Architektur galt, von überwiegend russischen Handwerkern in Kriegsgefangenschaft nach deutschen Architekturplänen im Geiste des Werkbundes nach Kriegszerstörungen wieder aufgebaut worden.
Für Tschernjachowsk bietet das von Dimitri Suchin angestoßenene, sehr breit angelegte Restaurations- und Stadtentwicklungsprojekt „InsterJahr“ eine Chance, sich auch von den schweren ökonomischen und sozialen Verlusten zu erholen, die in Folge der Ereignisse nach 1989 eintraten. Die Stadt büßte mit 60.000 abziehenden Soldaten mehr als die Hälfte ihrer Einwohner (ehemals 100.000) ein. Hinzu kam der Wegzug von vielen jungen Menschen nach Russland oder zumindest nach Kaliningrad. Viele der Dagebliebenen wissen sich im Film dennoch hoffnungsvoll zu präsentieren, haben viele Ideen, zeigen Initiative und setzen gerade auch auf Deutschland, wie der Film mehrfach en passant zu erzählen weiß. So fördert z.B. das Goethe-Institut zwei städtische Parkprojekte in Tschernjachowsk.
Die leichte Trauer und Melancholie, die die winterlichen Aufnahmen von städtischen Straßen und grauen Landschaften beim Betrachter hervorrufen, stehen in einem eigenartigen Kontrast zu den überraschend optimistischen Aussagen und der Aufbruchstimmung der Befragten. Sieht man den baulichen Zustand der vielen Gebäude aus der Gründerzeit, hört die Berichte einer Ärztin über den vergeblichen Protest der Betroffenen gegen die ignorante Verschandelung eines Schinkel-Gebäudes bei dessen Renovierung oder folgt der schier endlos scheinenden Fahrt vorbei an von russischen Truppen verlassenen wilhelminischen Kasernen, staunt man doch über die Aussage eines Stadthistorikers, der von „Klein-Venedig“ spricht.
Gudrun Wassermanns 81-minütiger Dokumentarfilm verdient Respekt. Er nimmt sich seines Themas völlig unaufgeregt und geduldig an, hat ein ruhiges Tempo, gibt den Erzählenden die Zeit, die sie brauchen, und entwickelt sich über anfangs z.T. scheinbar Nebensächliches zu einem leisen, aber nicht minder aussagekräftigen Portrait einer Gesellschaft im Aufbruch, die bereit ist, neue Kraft aus alten Quellen zu ziehen. (Helmut Schulzeck)
„Späte Heimat. Das Bauerbe in Tschernjachowsk“, Deutschland 2014, 81 Min., Farbe. Konzept, Regie, Kamera, Ton und Produktion: Gudrun Wassermann, Schnitt: Kai Zimmer, Übersetzung: Marina Janssen. Gefördert von: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (Filmwerkstatt Kiel), Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein.
Der Film wird vom Kommunalen Kino Kiel in der Pumpe im Rahmen einer Matinee zu Ehren der Filmermacherin, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag beging, gezeigt – aufgrund einer Erkrankung der Regisseurin allerdings nicht wie ursprünglich geplant am 26.10.2014, sondern am Sonntag, den 11. Januar 2015, 11 Uhr.
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