64. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2014

Forrest Gump’s verrückter Bruder

„The Dog“ (USA 2013, Allison Berg, Frank Keraudren)

New York, 1970, ein Hochzeitsempfang füllt das kleine Café im New-Yorker-Szeneviertel Greenwich Village. Die Braut in Weiß ist umringt von Brautjungfern in ebenfalls glänzend-weißen Kleidern, der Bräutigam trägt die Uniform eines US-Army-Soldaten, er hat in Vietnam gedient. Polizisten auf Straßenpatrouille halten inne und gratulieren den Brautleuten, flirten mit den Brautjungfern. Was sie nicht ahnen: Sie sind Zeugen der ersten inoffiziellen schwulen Hochzeit der New Yorker Gay Community. Absolut alle im Raum sind Männer.
Der „Bräutigam“ ist Little John Basso, bürgerlich John Wojtowicz, ein Brooklyner, der sich als frisch gebackener Ehemann und junger Vater zur US-Army meldete, wo er sein schwules Coming Out während seines Wehrdienstes in Vietnam hatte. Nach dem Ende seiner Dienstzeit warf sich John in das Szeneleben und begann, sich als Mitglied der GAA (Gay Activist Alliance) in der aufkeimenden Schwulenszene New Yorks zu engagieren. Er verliebt sich in Ernest Aaron, der sich Liz Eden nennt und sich nichts sehnlicher wünscht als eine Geschlechtsumwandlung zur Frau. John ist dagegen, es kommt es zum heftigen Streit, Liz greift zum Messer. Beide kommen schließlich in Polizeigewahrsam und durch eine Falschaussage von Liz landen beide auch in der Aufnahme einer Nervenheilanstalt. John boxt sich seinen Weg frei. Aber statt sich von Liz zu trennen steht für ihn fest: Er muss das Geld für eine Geschlechtsumwandlung beschaffen.
Im Netz der Justiz und eigener Obsession: John „The Dog“ Wojtowicz (Foto: Berlinale)
Was nun passiert, verewigt John, „The Dog“ wie er sich ich selbst nennt, für immer im Gedächtnis der Nation: Der Banküberfall und die stundenlange Geiselnahme, mit der er das Geld für die Geschlechtsumwandlung beschaffen will, wird zuerst zum Spektakel in der Nachbarschaft und dann zum nationalen Medienereignis. Wenige Jahre später – John sitzt nach dem gescheiterten Überfall im Gefägnis – verfilmt Sidney Lumet das absurdeste Verbrechen des Jahrzehnts als „Dog Day Afternoon“ (USA 1975), Al Pacino spielt John, der Film wird zum Klassiker.
Auch die Dokumentarfilmer Allison Berg und Frank Keraudren lieben den Film, nach einer erneuten Sichtung packte sie die Neugier, was wohl aus dem echten „Dog“ wurde. Sie kamen ihm auf die Spur und nach einem fünfstündigen nächtlichen Telefonat begann die Arbeit an seiner filmischen Biografie, die nun nach gut zehn Jahren ihren Abschluss fand.
Hochzeitspaar Liz Eden und John Wojtowicz (Foto: Berlinale)
Herausgekommen ist dabei einer der verrücktesten Lebensläufe eines zu unfreiwilligem, notorischen Ruhm gekommenen bisexuellen Mannes, dessen unbedingte Liebesbezeugung in die populäre Kulturgeschichte eingegangen ist. „The Dog“ ist zunächst einmal die Geschichte eines Mannes, dessen Verlangen, geliebt zu werden, ihn zu einem gewaltbereiten, obsessiven und selbstzerstörerischen Anti-Heroen werden lässt. Umso erstaunlicher ist es, dass trotz seines Verbrechens und seiner unzweifelhaften Manie seine Mutter und auch seine erste Ehefrau zu ihm stehen. Es ist eine herausragende Leistung von Berg und Keraudren, über Jahre hinweg vertrauensvolle Beziehungen zu den Protagonisten ihres Films aufgebaut zu haben, die die sehr offenen Interviews überhaupt ermöglichten. Dadurch erst entgeht der Film dem reinen Nacherzählen und wird zum Portrait eines Getriebenen, der über sein potentes Fabulieren vor der Kamera seine inneren Abgründe offenbart. Ganz nebenbei erzählt „The Dog“ aber auch aus einer etwas anderen Perspektive die Anfänge der Schwulenbewegung und reflektiert den Verfall der (amerikanischen) Medien-Ethik. (dakro)
The Dog“, USA 2013, 101 Min., HDCAM, Regie, Produktion: Allison Berg, Frank Keraudren, Kamera Amanda Micheli, Schnitt: Frank Keraudren
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