Nordische Filmtage Lübeck 2003

Die Poesie des Dokuments

(Die glückliche Kuh, Den lyliga kon, Fin. 2003, 29 Min., Beta SP, Per-Ove Högnäs; Venecijus‘ Leben und der Tod Cäsars, Venecijaus gyvenimas ir Cezario mirtis, Lit. 2002, 55 Min. Beta SP, Janina Lapinskaite)

Zwei Kleinbauern, zwei Schicksale, zwei Arten von Einsamkeit, zwei Einsiedeleien … Die beiden Dokumentarfilme „Venecijus‘ Leben und der Tod Cäsars“ und „Die glückliche Kuh“ in einem Block zu zeigen, dürfte für die Programmmacher der Nordischen Filmtage vom ähnlichen Setting her naheliegend gewesen sein. Aber auch wegen des ähnlichen Blicks, den Janina Lapinskaite und Per-Ove Högnäs auf ihre Porträtierten haben.

Rune Jansson, 70 und Rentner, ist der letzte Einwohner auf Bergö, einer der Åland-Inseln, abgelegen in der östlichen Ostsee. Seinen Hof mit vier Kühen betreibt er nur noch als Hobby. Seit die EU mit einem Wust an Verordnungen und Quoten auch auf Bergö eingezogen ist, lohnt sich Janssons Landwirtschaft nicht mehr. Allein, seine Kühe sind dem Einsiedler wie Menschen ans Herz gewachsen. Er gibt ihnen das Gnadenbrot, auch wenn er ihre Milch zum größten Teil auf den Misthaufen gießen muss, weil sie unverkäuflich bleibt. Högnäs porträtiert jedoch nicht nur einen Kauz, der sich halsstarrig der rasenden Moderne entgegenstellt und sein Idyll erhält. Denn Jansson hat eine Vision von einer Landwirtschaft, die sich gerade in ihrer persönlichen Beziehung zu Tier und Natur als nachhaltig erweist.

Ist der Kauz somit nicht doch ein Visionär, ein Weitsichtiger statt bloß ein Zurückgebliebener? Högnäs‘ dokumentarischer Blick ergreift hier Partei, bildet nicht nur ab, er erzählt auch. Der Beobachter ist ein Beteiligter, kein Abständiger und das nicht nur notgedrungen, sondern als Credo des Dokumentaristen, der Jansson nicht mit einem Team, sondern allein und lediglich ausgetattet mit seiner Handkamera aufsuchte, weil er als Museumsmitarbeiter eigentlich keinen Dokumentarfilm drehen wollte, sondern Zeitzeugen für eine vergehende Form der Landwirtschaft suchte.

Wie sehr der litauische Bauer Venecijus Janina Lapinskaites Kameragegenwart vergisst, mutet noch erstaunlicher an. Noch mehr als Högnäs stellt sich Lapinskaite mit ihrer Kamera in den Hintergrund und ist doch unmittelbar Beteiligte. Als reagiere sie direkt „auf der Szene“, fängt sie Venecijus‘ Melancholie in Naturbildern ein, wenn der von Frau und Kind Verlassene ziellos und doch geschäftig über seine verdorrenden Äcker stapft. Die Kamera nimmt ungewöhnliche Perspektiven ein, zeigt das verwitterte Gesicht vor schwefelgelben Wolkenszenerien, deren Bildkraft an Eisenstein erinnert. Venecijus ist einsam, er bleibt das vor der Kamera, indem er sich ihrem Blick hingibt. Symbolisches, das den Hobby-Bildhauer ohnehin in seinen behutsam gezeigten Plastiken umgibt, ist alltäglich und Alltag symbolisch, etwa wenn Venecijus auf einem Haufen Weizenkörnern liegt und in seinem endlos den Film durchziehenden Selbstgespräch über Leben und Tod sinniert. Solche Bilder wirken gleichwohl nicht gesucht. Es sind vorgefundene, in all ihrer spielfilmhaften Symbolwirkung dennoch immer dokumentarisch. Das Dokument hat Poesie. Venecijus spricht mit einem Schwein, das er schließlich schlachtet, ein Vorgang, den Lapinskaite zwar als bäurischen Alltagsvorgang abfilmt, doch in ihren Bildern auf etwas ganz anderes verweist – auf die Einsamkeit als Naturkonstante.

Wirklichkeit nicht nur als Wirklichkeit abgebildet, sondern in ihrer poetischen Dimension erforscht, solcher dokumentarische Blick war auf den Nordischen Filmtagen öfter zu sehen. Zeichnet sich hier ein neues Verständnis des filmischen Dokuments ab? Vielleicht ist es auch nur ein Wiederfinden einer Qualität, die im Medium begründet liegt, nämlich dass Filmbilder immer eine kunstvolle Vermittlung von Wirklichkeit darstellen, selbst – und gerade auch – im Dokument.

(jm)

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