60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Generation 14plus
Heimatlos im „Volksheim“ Schweden
„Sebbe“ (Babak Najafi, Schweden 2010)
Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist Vergangenheit. Wenn man keinen Job hat und sich in einem sozial prekären Milieu befindet, ist daraus kaum ein Ausweg zu finden. Zwangsläufig leiden auch die menschlichen Beziehungen unter einem Dasein am Rande der Gesellschaft; wer weiß schon, wie lange die Familie wirklich zusammen hält und ob Spielkameraden aus der Nachbarschaft auch als Halbwüchsige noch gute Kumpels bleiben können …
Babak Najafi erzählt die Geschichte von Sebbe bzw. Sebastian, der gerade 15 wird. Mit seiner alleinerziehenden Mutter Eva wohnt er in einer Sozialwohnungssiedlung in Göteborg. In der Schule ist er selten gesehen. Sobald er doch mal dort ist, schikanieren ihn Kenny, der bei ihm um die Ecke wohnt, und seine gewalttätigen Kumpels. Seine ganze Leidenschaft steckt Sebbe ins Basteln: Zu Hause schraubt er ständig an seinem Fahrrad herum, und seine Zimmerbeleuchtung ist geradezu eine selbst konstruierte Lichtinstallation. Seiner jungen Mutter Eva passt Letzteres nicht, wegen der Stromkosten. Eva trägt nachts Zeitungen aus, um für beider Lebensunterhalt zu sorgen. Und Sebbes Vater? Ist verschwunden, man erfährt nichts Genaues, aber Eva vermisst ihn immer noch. Und trinkt, um sich zu trösten, ab und zu auch mal das eine oder andere Bier, obwohl die Familie jede Krone mehrfach umdrehen muss. Geld für irgendwelchen Luxus wie z.B. Kleidung ist nicht da. Die freudige Überraschung ist desto größer, als Sebbes Mutter ihm zum Geburtstag eine rote Winterjacke schenkt. Noch weiß Sebbe nicht, dass Eva nicht rechtmäßig an das Kleidungsstück gekommen ist, aber er erfährt es nur zu bald und bekommt üble Folgen zu spüren …
Bastelt zurückgezogen an seiner Heimat: Sebbe (Foto: Berlinale)
Der im Iran geborene Babak Najafi kam mit zwölf Jahren nach Schweden, ursprünglich nur für zwei Wochen, erinnert er sich. „Sebbe“ ist nach einigen kurzen Spiel- und Dokumentarfilmen der erste lange Spielfilm des Regisseurs. Najafi, von dem auch das Drehbuch stammt, hat fünf Jahre lang an dem Stoff gearbeitet. Bis auf Eva Melander in der Rolle der Eva sind alle Darsteller Laien. Um den Hauptdarsteller Sebastian Hiort af Ornäs zu finden, habe er drei Monate lang auf Stockholmer Schulhöfen herumgelümmelt, berichtet Najafi. Wie er auf die Idee zur Story gekommen sei? Weil das Motiv der Trennung ihn sehr interessiere, meint Najafi, verschiedenste Formen der Trennung zwischen Menschen. Und er habe unbedingt ein Milieu der Armut wählen wollen, das es in den reichen europäischen Ländern eben auch zu Genüge gibt. Najafi nennt außerdem eine bewährte Arbeitsmethode: das Geheimnis. Den Schauspielern habe er jeweils Ideen vermittelt, von denen die anderen nichts erfuhren – auf das Spiel habe sich dies überaus positiv ausgewirkt. Und überhaupt: Ein Film entstehe im Grunde dreimal neu – in der Konzeptionsphase, dann während des Drehens und schließlich im Schneideraum.
Im November 2009 fertig geschnitten, hat „Sebbe“ bereits erste preisliche Ehrungen erhalten: Im Rahmen des Göteborger Filmfestivals erhielt er Ende Januar 2010 den Preis der Schwedischen Kirche für die „existentiell ergreifende Schilderung der ultimativen Einsamkeit eines jungen Menschen“. Auf der Berlinale läuft „Sebbe“ in der Sektion Generation 14plus und konkurriert somit um den Gläsernen Bären der Jugend-Jury.
In Schweden wird der Film am 12. März 2010 in die Kinos kommen. Die Einsamkeit und die Gewalt, die Sebbe umgeben, werden keine leichte Kost für das Publikum sein. Nicht zuletzt der einfühlsame Einsatz von Musik unterstreicht die dichte Atmosphäre. In mehreren Szenen spielt ein schwarzer Hund eine offenkundig symbolische Rolle. Wie Babak Najafi diese Symbolik meint, so sagt er, wird niemand von ihm erfahren: Es ist ein persönliches Motiv und soll sein Geheimnis bleiben. (gls)
„Sebbe“, Schweden 2010, 79 Min., 35mm Cinemascope, Buch, Regie: Babak Najafi, Kamera: Simon Prmsten, Schnitt: Andreas Nilsson, Ton: Niclas Merits, Robert Leib, Darsteller: Sebastian Hiort af Ornäs, Eva Melander, Kenny WÃ¥hlbrink, Emil Kadeby, Adrian Ringman, Leo Salomon Ringart u.a.