„Guess Who’s Coming to Dinner“ (Stanley Kramer, USA 1967)
„Naked Lunch“ (David Cronenberg, CAN/JAP/UK 1991)
„Szürkület / Twilight“ (György Fehér, HUN 1990)
„A Woman In Paris“ (Charlie Chaplin, USA 1923)

Neben der Retrospektive und der Hommage bietet die Sektion „Classics“ während der Berlinale die Gelegenheit zur Wieder- oder Neuentdeckung von Filmkunst und Filmklassikern. Anlass und Voraussetzung für die Aufnahme in das im Jahr 2023 acht Titel umfassende Programm sind aktuelle Restaurierungen und High-Definition-Digitalisierungen. Mittlerweile ist eine 4k-Restaurierung der allgemeine Standard, eine Auflösung, die sich auch auf dem Home-Video-Markt für Filmliebhaber*innen durchgesetzt hat. Gegenüber der Full High Definition (Full HD), die z.B. eine Blu-Ray auszeichnet, bietet die 4k Ultra High Definition nicht nur mehr Detailschärfe, sondern auch einen größeren Farbraum und damit die Möglichkeit, der genaueren Annäherung an das Original im 35-mm-Format. Idealerweise sind die Kameraperson oder Regisseur*in an der Restaurierung beteiligt und können Wiederherstellung von Schnitt, Ton und Farbwerten begleiten.

Auch wenn Restaurierungen, digitale Kopien und digitale Projektionen unter Kinoliebhaber*innen umstritten sind und nur als zweite Wahl gegenüber der 35-mm-Kopie gewertet werden, ist es doch erfreulich und für die Filmgeschichte von unschätzbarer Bedeutung, dass Restaurierungen und qualitativ hochwertige Digitalisierungen vorgenommen werden. Im Marketinggetümmel der aktuellen Kino-Veröffentlichungen rücken Klassiker und solche Filme, die diesen Status verdient hätten, in den Hintergrund. Berlinale Classics bietet hier eine Bühne mit hoher Beachtung. Wohl auch deshalb sind sämtliche Beiträge in diesem Jahr Weltpremieren ihrer digitalen Restaurierungen.

Vier der acht Filme stellen wir hier kurz vor und verweisen auf Veröffentlichungen für das Heimkino. Denn eine Veröffentlichung auf physischen Datenträgern, so antiquiert wie sie erscheinen mag, ist ein weiterer Schritt für den Erhalt der Filmgeschichte. Filmklassiker sind auf Streaming-Diensten leider die Ausnahme, und Kino-Aufführungen werden ebenfalls seltener, auch wenn mit der Verfügbarkeit auf Datenträgern im DCP-Format die Aufführung theoretisch einfacher geworden ist.

Mit „Guess Who’s Coming to Dinner (Stanley Kramer, USA 1967) eröffnete die Berlinale die Sektion „Classics“. Der Film kann durchaus als Statement und Positionierung Hollywoods zum vom Civil Rights Movement der 1960er Jahre beklagten Rassismus in den USA verstanden werden. Neben den Hollywood-Altstars Spencer Tracy und Katharine Hepburn spielt Sidney Poitier die eigentliche Hauptrolle in der Dramödie um eine gutbürgerliche Familie, die von ihrer Tochter mit einem afroamerikanischen Verlobten überrascht wird. Das Drehbuch gibt sich Mühe, die Perspektiven beider Familien zu behandeln, doch bleibt das Beispiel eines modernen „Mixed Couple“ insofern etwas zahnlos, als Poitier einen hochgebildeten, erfolgreichen und geachteten Mediziner spielen darf, bis auf seine Hautfarbe also ein Ideal-Schwiegersohn. Mit sozialen Realitäten hatte dieser klassisch angelegte Hollywood-Film also wenig zu tun. Eine Neusichtung auf großer Leinwand lohnt sich trotzdem, schon wegen der herausragenden Darstellerleistungen von Tracy und Poitier. Zusätzliches Sentiment strahlt von der Leinwand, wenn man weiß, dass dies der letzte Auftritt von Spencer Tracy ist, noch dazu gemeinsam mit seiner langjährigen (Schauspiel-)Partnerin Katharine Hepburn. Tracy verstarb zwei Wochen nach den Dreharbeiten. Bedauerlicherweise liegt noch keine Veröffentlichung in 4k vor, der Film wird aber als Teil der „Columbia Classics Vol. 4“ UHD-Box im Februar 2024 erscheinen und hoffentlich auch noch als Einzelausgabe in den Handel kommen.

Still aus „Guess Who’s Coming to Dinner“: Katharine Hepburn, Spencer Tracy, Katharine Houghton, Sidney Poitier © 1967, renewed 1995 Columbia Pictures Industries, Inc.

Die William S. Burroughs Adaption „Naked Lunch“ steht selten im Fokus, wenn es um David Cronenbergs Filmschaffen geht. Die surrealistische Verfilmung der Drogenbiografie Burroughs’ fiel Anfang der 1990er in der Zuschauergunst etwas durch, zu sehr waren die Erwartungen des Publikums durch den Erfolg des klassischen Body-Horrorfilms „Die Fliege“ geprägt. Retrospektiv hat man mit „Naked Lunch“ den vielleicht fantasie- und humorvollsten Film Cronenbergs vor sich, dessen praktische Spezial-Effekte extrem gut gelungen sind. Glücklicherweise konnte für die durch Cronenberg abgenommene Restaurierung der Kameramann Peter Suschitzky gewonnen werden. Für Conforming, Grading und die digitale Restaurierung des Films in 4k mit Dolby Vision HDR und SDR zeichnete übrigens die Firma LSP Medien aus Uelzen verantwortlich. Das britische Heimkino-Label „Arrow Films“ hat die neue 4k-Restaurierung mit bereits veröffentlichtem, aber auch umfangreichem neuem Bonusmaterial herausgebracht.

Ein Highlight der Classics-Reihe war sicherlich die digitale Premiere von „Szürkület“ (englischer Titel: „Twilight“), einer Adaption des Dürrenmatt-Krimis „Das Versprechen“. Das Langfilm-Debüt ist einer der beiden in schwarz-weiß gefilmten Kinofilme des früh verstorbenen ungarischen Regisseurs György Fehér. Fehér erzeugt mit sparsamen filmischen Mitteln eine bedrohliche Atmosphäre, welche die recht übersichtliche Handlung trägt. Um einen Kindesmörder zu fangen, riskiert ein Kommissar das Leben eines kleinen Mädchens, das ihm als Lockvogel dient. Die Restaurierung konnte anhand des Original-Kameranegatives und unter Beteiligung des Kameramanns Miklós Gurbán vorgenommen werden. Das britische Kunstfilm-Label „Second Run“, spezialisiert auf osteuropäische Filmkunst, hat eine Blu-Ray mit umfangreichem Bonusmaterial herausgebracht.

Still aus „Szürkület“ (Quelle: NFI – Film Archive © Inkey Alice)

Die digitale 4k-Restaurierung des mittlerweile 100 Jahre alten Aufsteiger-Dramas „A Woman in Paris“ von Charlie Chaplin erfolgte bereits 2019. Doch zur Weltpremiere auf der Berlinale wurde eine Fassung mit neuem Soundtrack vorgestellt, der sich aus einer Rekonstruktion der Originalmusik und bislang nie zu Gehör gekommenen Kompositionen von Chaplin zusammensetzt, meisterhaft arrangiert von Timothy Brock. Die Regiearbeit Chaplins ist auch deshalb nicht so präsent, weil Chaplin, wie ein Vortitel umsichtig ankündigt, nicht selbst im Film auftritt. Der Film schlägt ernste, sozialkritische Töne an, die weniger humoristisch kaschiert werden als in Chaplins bekannteren Arbeiten.

Adolphe Menjou, Edna Purviance in „A Woman of Paris“ © Roy Export SAS

Das französische Label Potemkine Films hat eine Blu-ray veröffentlicht, die momentan leider nur in Frankreich zu bestellen ist. Die Blu-ray beinhaltet jedoch die 4k-Restaurierung, den neuen Soundtrack sowie ein wenig Bonusmaterial. (dakro)

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Titelfoto: Peter Weller in „Naked Lunch“ © Recorded Picture Company
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