Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (6):
Die „Central Lichtspiele“, das erste neue Großkino Kiels nach 1945
„Warum geht man eigentlich ins Kino?“, fragen Klaus Scepanik und Hans-Joachim Nagel in einer kleinen Broschüre zur Eröffnung der Kieler „Central Lichtspiele“ (14. Juni 1951), um dann in einer kurzen „Betrachtung“, wie sie es nennen, „den besonderen Wert des Films „¦ in seiner fast unbegrenzten Vielfalt der Möglichkeiten“ zu preisen. Der weitere Text ergeht sich in einigen kurzen Absätzen über die Vorzüge der verschiedenen Filmgenres und mündet schließlich in die abschließende Feststellung: „Das neuzeitliche Filmtheater bietet zu erschwinglichen Preisen eine Vielfalt von Unterhaltung, Wissensbereicherung, Entspannung und angenehmen Aufenthalt, wie kaum etwas anderes. Deshalb geht man so gern ins Kino.“
Prospekt zur Eröffnung des „Central“ (Foto: Archiv Schulzeck)
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Bekanntlich haben Fernsehen und Internet diese Vorzüge und Funktionen dem Kino, das sich in den für es „goldenen“ 50er Jahren immer noch stolz Lichtspieltheater nannte, zum größten Teil entrissen. Die Nachkriegszeit bis 1960 brachte die letzte große Blüte der Kinobranche. Ein letztes Jahrzehnt mit sehr guten, stattlichen Erträgen für Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber. Eine nie wieder erreichte Zahl an Besuchern ließ die Umsätze für die Lichtspielsäle erfreulich in die Höhe schießen. Innenstadt- und Vorstadtkinos. Erst- und Zweitaufführungstheater, ja Drittaufführungstheater. Schaubuden und Filmpaläste. Der Markt, genauer gesagt, der vielfache Wunsch nach einem Filmvergnügen bei den Kinobesuchern, erlaubte diese Ausdifferenzierung in der Verwertungskette für die Unterhaltungsware. Und im Gegensatz zu heute war das Kino konkurrenzlos, wenn man ein Medium und einen Ort zum Filmeschauen suchte. So besaß das Kino einen heute kaum noch vorstellbaren Stellenwert bei den Freizeitvergnügungen hierzulande.
Grundlage dafür waren die großen und kleinen Kinos, die überall im Lande seit Anfang der 50er Jahre neu geschaffen wurden. War doch nach 1945 die Infrastruktur, was die Kino-Immobilien betrifft, besonders in den Innenstädten in weiten Teilen zerstört. So wurden z.B. in Kiel die „Reichshallen“ [1] der Ufa am Bootshafen 1941 und das „Colloseum“ [2] am Exerzierplatz 1944 vollkommen zerstört. Als einzige große Erstaufführungskinos blieben das „Capitol“ am Dreiecksplatz (heute „Studio“) und die „Reichshallen“ in der Legienstraße [3] erhalten.
Ins Nachkriegs-Kiel war August Scepanik, der spätere so genannte „Kieler Kinokönig“ zurückgekehrt, dessen Sohn Klaus ab Mitte der 60er Jahre bis zur Eröffnung des Kommunalen Kinos in der Pumpe im Mai 1979 ein Kinomonopol in der Fördestadt leitete. August Scepanik hatte es 1935 nach Kiel verschlagen, als er als kleiner Kinobesitzer aus dem Stuttgarter Raum im Zuge der „Arisierung“ von jüdischem Besitz das Kino „Kaiserkrone“ im Breiten Weg vom Kieler Juden Josef Ehrlich (dessen Geschichte, soweit sie mir bekannt ist, an gleicher Stelle ein anderes Mal zu erzählen ist) überschrieben bekommt, das später den Bomben der Alliierten zum Opfer fallen soll. Drei Jahre später pachtet er von der Stadt Kiel das „Colloseum“ am Exer dazu.
Nach Mai 1945, ist an einen Neuaufbau von Kinos erst einmal nicht zu denken. Erst die Währungsreform 1948 schafft mit der Einführung der D-Mark die finanzielle Voraussetzung dafür. August Scepanik wird durch einen Besuch in der amerikanischen Zone in Südwestdeutschland, das wirtschaftlich gesehen dem Norden voraus ist, dazu motiviert, sich in Kiel wieder für ein eigenes Kino zu engagieren.[4]
Das „Central“, Scepaniks erstes Nachkriegskino, wird sozusagen auf vergnügungshistorischem Grund zwischen Sozialwohnungen in der Eckernförder Straße errichtet. Zuvor war hier das beliebte Konzert- und Ballhaus „Deutsche Wacht“ mit großem Konzertsaal plus Bühne sowie einem weiteren Saal und anderen Veranstaltungs- und Festräumen angesiedelt. Kurios für uns heute, deshalb nicht zu vergessen, gehörte nebst Kegelbahn auch noch eine Kleinkaliber-Schießsporthalle zu dem beliebten Etablissement.
„Central“ vor der Eröffnung (Postkarte, 1951)
Klaus Scepanik, damals 20 Jahre alt, erinnert sich 45 Jahre später in Zusammenhang mit der Errichtung des „Central“ vor allem an zwei Dinge: zum einen an die „unheimlichen Bemühungen das Ganze überhaupt finanziell auf die Beine zu stellen“ und zum Zweiten daran, dass in dem Bau über 50 Prozent wiederverwendeter Materialien steckten. So habe er sich bestimmt die Fingerkuppen wund gekloppt beim Reinigen schon einmal benutzter Ziegelsteine aus Kriegstrümmern. Zu einem Lohn von 5 DM für 100 Steine.
Fassade des „Central“ 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
„Sparen, sparen, sparen“, sei angesagt gewesen. Klappstühle aus Holz, bei denen nur Sitzfläche und Rückenlehne getrennt spärlich gepolstert sind, werden eingebaut. Als Projektoren können von Scepanik die beiden Bauer P8 35mm-Maschinen genutzt werden, die er nach der Zerstörung der „Kaiserkrone“ aus ihrer unversehrt gebliebenen Vorführkabine hatte retten können. Mit 930 Plätzen und 74 Notsitzen kann man beim „Central“ immerhin von einem 1.000-Plätze-Kino sprechen. Zwar seien die Baukosten von 190.000 DM damals eine Menge Geld gewesen, räumt Scepanik ein. Dennoch sei das Kino eine Sparausgabe gewesen.
Saal des „Central“ 1958 (Foto: „Der neue Film“ 9/1958)
Mit Befremden wird von den Besitzern der beiden zu der Zeit in Kiel verbliebenen Erstaufführungstheater „Reichshallen“ und „Capitol“ zur Kenntnis genommen, dass Scepanik mit seinem „Central“ den Anspruch anmeldet, auch ein Erstaufführungskino zu betreiben. Das sind sie aus der NS-Zeit nicht gewohnt, in der Goebbels’ Reichsfilmkammer die Rangordnung unter den Kinos ein für alle Mal verbindlich festgelegt zu haben schien. So kommt es zu einem knallharten Konkurrenzkampf, in dem die beiden anderen Kinobesitzer es, nach Aussage von Klaus Scepanik, seinem Vater mit Hilfe ihrer alten Seilschaften zu ihren Verleihern schwer machten, an die begehrtesten Filme heranzukommen, und das waren die deutschen Filme noch aus der Kriegszeit und von zuvor.
Scepanik macht aus der Not eine Tugend und nimmt Filme aus den amerikanischen Verleihstaffeln in sein Programm, auch so genannte B-Filme. Und das Ganze zu sehr moderaten Eintrittspreisen von 60 Pfennig für Arbeitslose (die nicht selten, nach ihrer Pflichtmeldung auf dem benachbarten Arbeitsamt auf dem Wilhelmsplatz ins Kino gehen) in den ersten beiden Vorstellungen bis 16 Uhr und bis zu 2 DM auf den besten Plätzen am Wochenende.
Unter diesen Voraussetzungen, mit nur zwei echten Konkurrenten am Ort, gedieh das Kino in den ersten Monaten zum großen Erfolg. Das „Central“ hat bei fünf Vorstellungen pro Tag plus einer zusätzlichen Spätvorstellung freitags und samstags 7- bis 8.000 Besucher und trotz oder vielleicht gerade aufgrund eines durchschnittlichen Eintrittspreises von unter einer DM sehr zufriedenstellende Einnahmen.
Wenige Monat später feiert am 12. November 1951 das „Gloria“ an der Holstenbrücke, auch ein 1.000-Plätze-Kino, mit einer Galaveranstaltung seine Eröffnung. Damals ein weit aus luxuriöseres Filmtheater als das „Central“, gesteht Klaus Scepanik. Aber es bewegt August Scepanik schließlich dazu, ein neues, weiteres Groß-Kino, das „Metro“ im „Schloßhof“ in der Holtenauer Straße zu installieren. Es wird sein Hauptkino, in dem Klaus Scepanik später, als er auch Präsident des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater ist, zahlreiche Bundespremieren feiern lässt.
Weiteres Kieler Groß-Kino, das „Metro“ (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Nichts währt ewig. Und so wird 1961 aus der ehemaligen „Sparausgabe“ von Kino eines der bequemsten Kinos Deutschlands. Das alte, harte 1.000-Plätze-Gestühl des „Central“ wird durch 516 bequeme Polstersessel ersetzt. Auch die größte Leinwand Kiels befördert das Filmvergnügen. Besonders große Kinoepen werden darauf zum optischen Erlebnis. Ob „Vom Winde verweht“ oder „Blade Runner“ – solche Filme auf solch einer Leinwand – unvergessen.
Anzumerken bleibt, dass das „Gloria“ Ende 1976 unter seinem letzten Besitzer Klaus Scepanik seine Pforten schließt. Im „Central“ gehen im November 1985, fünf Jahre nachdem Scepanik seinen Kieler Kinopark an den Ufa-Filmtheater-Konzern verkauft hat, für immer die Lichter aus. In die Räumlichkeiten in der Eckernförder Straße zieht eine Tanzschule ein. (Helmut Schulzeck)
Das „Gloria“ 1976, im Jahr seiner Schließung (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Anmerkungen:
- [1] Das am Bootshafen gelegene größte Kino der Stadt: im Parkett mit 724 Plätzen, im Rang mit 250. Mit 124 Balkonlogensesseln für die Rangbrüstungslogen sowie mit 12 losen Sesseln für die rückwärtige Saalloge (nach Bauakte im Stadtarchiv Kiel, aufgeführt von Horst Reimers in „Von der Kaiserkrone zum CinemaxX. Die Geschichte der Kieler Filmtheater“, Husum 1999).
- [2] großes Zweitaufführungskino von August Scepanik mit 800 Plätzen
- [3] Das Ufa-Kino wurde als Ersatz für die 1941 zerstörten „Reichshallen“ am Bootshafen im damaligen so genannten „Haus der Arbeit“ (heute Legienhof) eingerichtet.
- [4] Diese Information fußt wie auch die folgenden auf einem eigenen Filminterview, das ich im Rahmen des letztlich nicht zu Ende geführten Dokumentarfilmprojekts „Kieler Kinos nach dem Krieg“ zusammen mit Werner Barg bei Klaus Scepanik in München im Sommer 1995 geführt habe, und auf Horst Reimers Kieler Kinogeschichte (siehe Anm. 1)
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Teil 6 aus der filmhistorischen Reihe, die in loser Folge lokale und regionale Film- und Kinogeschichte aus den „kinematographischen Erinnerungsarchiven“ erzählt. Weitere Teile finden sich hier:
- Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (1): „Marlowski“
- Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (2): Hitchcock in Kiel: Durchreise statt Referenz
- Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (3): Wie ich einst mit Peter Fitz durch Berliner „Katakomben“ tobte. Erinnerungen an die Dreharbeiten des Kurzfilms „Wo ist Erkan Deriduk?“ von Helmut Schulzeck
- Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (4): 8. Mai 2019 – 40 Jahre Kommunales Kino Kiel
- Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (5): Der langsame Abschied vom Kino wie wir es kennen – Aus Kieler Perspektive
Die Fotos von Bernd-Günther Nahm entstanden an einem trüben Nachmittag im Jahre 1976 als visuelle Zwischenbilanz aller damals geöffneten Kinos in Kiel.