69. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2019
Radikales Erwachsenwerden
„Hölmö nuori sydän / Stupid Young Heart“ (Finnland/Niederlande/Schweden 2018, Selma Vilhunen)
Finnland ohne Wälder und Seen: In Ost-Helsinki gibt es Mietskasernen, so weit das Auge reicht. Das Angesagteste für die Mädchen in dieser Plattenbau-Wüste ist das Hip-Hop-Training. Kiira ist die Vortänzerin und „twerkt“ am geschmeidigsten. In der Pause muss sie sich, zusammen mit ihrer Freundin Neea, im Klo einschließen, um das Ergebnis ihres Schwangerschaftstests zu sichten: positiv! Das ist aber gar nicht so uncool. Kiira hat bereits Erfahrung; letztes Mal hatte das Ganze allerdings mit einem Abbruch geendet. Aber inzwischen ist Kiira 15 und somit nur wenig jünger als ihre eigene Mutter, als diese mit Kiira schwanger wurde.
„Hölmö nuori sydän“: Jere Ristseppä als Lenni (Foto: Uwa Iduozee)
Jetzt kommt es natürlich darauf an, was Lenni dazu meint. Er ist eigentlich gar nicht Kiiras Typ, aber ein netter, schüchterner Kerl, und die Drinks bei einer der letzten Partys haben sie schließlich zusammengebracht. Lenni hat sturmfreie Bude und lädt sie zu sich nach Hause ein. Zum Omelett-Essen! Kochen hat seine Mutter ihm beigebracht, damit er nicht hungrig zu Hause zu sitzen braucht, während sie noch bei der Arbeit ist. Kiira genießt, so von Lenni verwöhnt zu werden, denn zu Hause bei Kiira dreht sich immer alles um die drei kleinen Geschwister. Schon klar, dass das für ihre Mutter Ansku nicht einfach ist, nachdem Kiiras Vater abgehauen ist. Aber immerhin hat Kiira zu ihrem Vater Kontakt. Lenni kennt seinen Erzeuger überhaupt nicht.
Kiira und Lenni beschließen, das Baby zu bekommen. Doch bis zur Geburt eines Kindes kann man schließlich nicht ständig Baby-Betten aussuchen, Wohngeldanträge stellen und sich vergeblich nach Arbeit umsehen. Lenni hängt weiterhin mit seinen Kumpels ab, von denen einige zum Rechtsextremismus tendieren, insbesondere sein Boxtrainer Janne. Dass es die vielen dunkelhäutigen Ausländer im Viertel sind, die ihnen die Jobs wegnehmen, meinen Janne und seine Jungs mit hundertprozentiger Sicherheit zu wissen. Lenni rasiert sich eine Glatze und beschließt klarzustellen, dass er ein Mann ist: Für den Anfang wirft er eines nachts die Scheiben des Kiosks eines ägyptischen Inhabers ein …
„Hölmö nuori sydän“: Christian Lausund, Mohamed Hussein, Rosa Honkonen (Foto: Uwa Iduozee)
Die Drehbuchautorin Kirsikka Saari ist selbst in Ost-Helsinki aufgewachsen und kennt das beschriebene Milieu nur zu gut, auch die seit Jahren wachsenden Rassismus-Tendenzen. Gemeinsam mit Regisseurin Selma Vilhunen hat sie bereits finnische Filmgeschichte geschrieben, als beider Kurzfilm „Do I Have to Take Care of Everything?“ für die Oscar-Verleihung 2012 in der Kategorie Short Film Live Action nominiert wurde – die sage und schreibe zweite Nominierung eines finnischen Films für die Oscars nach Aki Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“ 2002. Der Kurzfilm handelte vom ganz normalen Wahnsinn des Alltags als Mutter mit Kleinkind. Und jetzt ein Sozialdrama über Prekariat und Rechtsextremismus in Finnland?
Tatsächlich bringen Drehbuchautorin Saari und Regisseurin Vilhunen die Zeichnung des Teenager-Lebens, der Beziehung des blutjungen Paares, der desperaten Welt der Unterschicht und der politischen Extreme und Gewalt glaubwürdig unspektakulär und manchmal sogar mit Humor zusammen. Keiner der Akteure wird vorgeführt, keine Melodramatik eingesetzt, die Filmemacherinnen begegnen jeder der dargestellten Personen mit Respekt. Und spannend ist die Handlung auch noch. Rosa Honkonen (Kiira) und Jere Ristseppä (Lenni) verkörpern die 15-jährigen Protagonisten eindrucksvoll authentisch. Während Rosa – als erste „Künstlerin“ ihrer Familie – schon als Zehnjährige auf der Bühne gestanden hat und inzwischen sogar über einen Agenten in Deutschland verfügt, hatte Jere vorher noch nie schaugespielt. Seine leise Darstellung des unsicheren, pickligen, nach der Liebe und seinem Weg suchenden Lenni wirkt für den Zuschauer wohl am stärksten nach. „Wir hatten schon angefangen zu drehen, als mir klar wurde, dass dieser Film sich in Lennis Gesicht abspielen muss“, meinte Selma Vilhunen in einem Interview.
„Hölmö nuori sydän“: Behutsame Annäherung – Jere Ristseppä, Rosa Honkonen (Foto: Uwa Iduozee)
„Stupid Young Heart“ wurde im September 2018 beim Filmfestival in Toronto gezeigt und lief im Oktober 2018 in Finnland an. Kirsikka Saari erhielt Ende März 2019 den finnischen Filmpreis für das beste Drehbuch und Hauptdarsteller Jere Ristseppä den Darstellerpreis des BUFF Filmfestivals in Malmö. Bei der Berlinale wurde das Werk mit dem Gläsernen Bären der Jugendjury für den besten Film ausgezeichnet: „Das radikale Erwachsenwerden der Protagonist*innen wird stets von der Auseinandersetzung mit Rassismus und der Suche nach Identität überschattet“, heißt es am Ende der Laudatio.
Die Perspektive am Ende des Film bleibt auf zuversichtlich-zweiflerische Weise gekonnt offen. Radikales Erwachsenwerden eben. (gls)
„Hölmö nuori sydän / Stupid Young Heart“, FIN/NL/SW 2018, 102 Min.; Buch: Kirsikka Saari; Regie: Selma Vilhunen; Kamera: Lisabi Fridell; Schnitt: Michal Leszczylowski, Yva Fabricius; Darsteller*innen: Jere Ristseppä (Lenni), Rosa Honkonen (Kiira), Abshir Sheikh Nur (Abdi), Pihla Viitala (Ansku)