Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (3):
Wie ich einst mit Peter Fitz durch Berliner „Katakomben“ tobte
Erinnerungen an die Dreharbeiten des Kurzfilms „Wo ist Erkan Deriduk?“ von Helmut Schulzeck
Berlin Ende November 1994. Bernd Fiedler und ich recherchierten auf einem ehemaligen Gewerbegebiet in Spandau. In einem wuchtigen roten Backsteingebäude befand sich ein Lager der Freunde der Deutschen Kinemathek. Obwohl es schon Freitagnachmittag war, waren die Mitarbeiter eifrig damit beschäftigt, etliche Kisten zu öffnen und einen ersten Blick in sie zu werfen. Wir erfuhren, dass das der Nachlass von Marlene Dietrich sei, der gerade angekommen war.
Ein wenig später fanden wir ein unsortiertes Filmlager der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Bernd Fiedler war Jahrgangssprecher des ersten Studenten-Jahrgangs der DFFB gewesen. 1968 war er auf Veranlassung Heinz Rathsacks wegen einer Direktoratsbesetzung (Hausfriedensbruch) mit weiteren 17 Kommilitonen (darunter Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und Holger Meins) von der Akademie „geflogen“. Heinz Rathsack war neben Erwin Leiser Direktor DFFB, nachdem er zuvor jahrelang die Arbeitsgemeinschaften im Studentenwerk Schleswig-Holstein an der Kieler Universität geleitet hatte.*
Die Gruppe der DFFB-Studenten hatte Rathsacks Büros gestürmt und wollte ihn zur Rede stellen. Unter anderem wollten sie, dass Rathsack sein Urteil zur nicht bestandenen Prüfung (und dem daraus folgenden vorzeitigen Ende des Studiums) ihres Kommilitonen Gerd Conradts revidieren sollte.
Doch zurück nach Spandau an diesem sonnigen Spätherbstnachmittag. Hinter einer halb offenen vergammelten, alten Holztür im Keller des Gebäudes, an der der Zahn der Zeit schon heftig genagt hatte, fanden wir besagtes Filmlager der DFFB.
Das eigentliche Ereignis für mich aber war der Fundort, seine Umgebung und der Zustand des Lagers. Hier verstaubten Übungsproben des (so würde man heute ironisch sagen) „Deutschen Filmerbes“. Alles war wie aus einem Film bzw. schien für einen Film gemacht. Ich sah mich schon mit meiner Hi8-Kamera durch die Gänge rennen, ja toben, und diesen vergessenen, halb verwunschenen Schauplatz erobern.
Kellergang in „Wo ist Erkan Deriduk?“ (Fotos: Helmut Schulzeck)
Lange, fast katakombenartige gelb-braune, Klaustrophobie stimulierende Kellergänge führten zu diesem mild verstaubten, wild verpackten Raum, in dem sich 16- und 35 mm-Filmdosen (mit dazugehörigem Inhalt) neben vollen Umzugskartons türmten und sich so zu einem verwahrlosten, geheimnisumwitterten Ensemble zu gruppieren schienen. Daneben stand ein alter, verwaister 16 mm-Schneidetisch, auf dem eine Packung Migränezäpfchen und ein ausgeleierter Pullover fast bedeutungsschwanger eine Heimstatt gefunden zu haben schienen.
Das musste ich unbedingt für einen Film nutzen. Und so geschah es dann auch. Schnell hatte ich mir eine leicht irre Geschichte für einen 10- Minuten-Film ausgedacht, in dem die Bilder zu den eigentlichen Protagonisten werden sollten, und eignete mir den dunkelnden Ort der Handlung an.
Otto Sander in „Wo ist Erkan Deriduk?“
Damals war ich richtig in Otto Sander vernarrt, der im Spiegelzelt der „Bar jeder Vernunft“ unweit der Freien Volksbühne in „Im Weißen Rössl am Wolfgangsee“ mitspielte, und „belatscherte“ ihn, leider nur mit einem Teilerfolg. Er wurde meine Erzählerstimme und hat einen kleinen Gastauftritt im Film, wie auch Gerd Wameling, Irm Hermann, Siegfried W. Kernen und Walter Momper. Sander verwies mich an Peter Fitz und gab mir dessen Telefonnummer. Dort erreichte ich „nur“ eine Freundin (?) von Peter Fitz, er selbst war zu Dreharbeiten in Frankreich. Mit Hilfe des Filmabspanns kann ich heute den Namen der Frau, mit der ich telefonierte, rekonstruieren: Iris von Kluge. Jedenfalls erzählte ich ihr „stundenlang“ voller Begeisterung von meinem Projekt. Ich dachte damals ja, ich sei der Größte und würde den Film noch kurzfristig, es war schon Mitte Dezember, erfolgreich auf die Berlinale (im Februar) bringen können. Schließlich versprach mir meine geduldige Zuhörerin am anderen Ende der Leitung, Herrn Fitz zu fragen und ein gutes Wort für mich bei ihm einzulegen.
Holger Schabel (Peter Fitz) im unsortierten Filmlager in „Wo ist Erkan Deriduk?“
Das Wunder geschah. Peter Fitz fand im Januar einen ganzen gagenfreien Tag Zeit für mich. Wir brausten mit meinem uralten Opel Astra von Location zu Location. Erst nach Spandau, dann in die Masurenallee zur DFFB und schließlich in die damalige Verwaltungszentrale der Berlinale in die Budapester Straße vis-a-vis der Gedächtniskirche, unmittelbar neben dem Zoo Palast.
Fitz verfolgte am Spandauer Ort des Geschehens grandios einen panisch vor uns fliehenden Hausmeister. Der trug jetzt, welch wunderbare ironische Fügung, den ausgeleierten Pullover vom Schneidetisch sowie höchstwahrscheinlich ein Migränezäpfchen im Allerwertesten, nahm von Fitzens Fragen nach einem Erkan Deriduk irritiert seine Filmdosen in beide Hände und suchte sein Heil im Reißaus durch die Kellergänge. Der Arme war von uns nicht eingeweiht worden und wetzte schließlich schnellen Schritts beinahe wie um sein Leben. Fitz wie ein Terrier immer hinterher und ich mit dem Kamera hinterdrein.
Als uns später am Tag auf den Fluren der Berlinale-Büros Festivaldirektor Moritz de Hadeln entgegenkam – de Hadeln, so wie man ihn in der Öffentlichkeit gar nicht kannte: mit grob gestreiften Hemd, darüber Hosenträger – und ich spontan Peter Fitz bat, Moritz de Hadeln, ohne ihn über unseren Filminhalt vorher aufzuklären, einfach genauso wie vorher den Hausmeister, in die Handlung mit einzubeziehen und ihn zu fragen, ob er wisse, wo Erkan Deriduk sei (der ja im Film Berater der Berlinale ist), lehnte Fitz das ab. De Hadeln würde ihn kennen, und er hätte schließlich eine Reputation zu verlieren. Das sah ich ein.
Peter Fitz als Holger Schabel in „Wo ist Erkan Deriduk?“
Tags drauf war ich im Kaufhaus Wertheim, als ich Irm Hermann zufällig an der Rolltreppe mit meiner kleinen Kamera erwischte und ihr meine Frage nach Erkan Deriduk stellen konnte. Später im Preußischen Landtag, in den ich mich in eine Pressekonferenz des damaligen Oberbürgermeisters Walter Momper eingeschlichen hatte, gelang mir die erstrebte Aufnahme mit Momper für den Film. Und zwei Tage danach, an einem leicht frostigen, hellblauen Januarmorgen am Wannsee, stürmte ich mit laufender Handkamera auf eine Frau auf einem Haveldampfer zu, die mich wegen meiner bekloppten Fragen zumindest für einen Halbirren gehalten haben dürfte.
Und, was soll ich sagen, der Film wurde – „umkopiert“ von Hi8 auf 16 mm – rechtzeitig fertig, aber trotz tollen Spiels eines großartigen Peter Fitz, meiner Gast-Stars, stimmiger Locations, einer bemerkenswerten musikalischen Komponente dank der Thermin Vox, gespielt von Lydia Kavina, und meiner „fliegenden Handkamera“ nicht für die Berlinale ausgesucht.
Peter Fitz und Otto Sander haben den fertigen Film nie gesehen, was mich immer noch ein wenig wurmt. Bernd Fiedler freilich, der mich fernmündlich von München aus per Telefon coachte, ist immer noch von „Wo ist Erkan Deriduk?“ überzeugt. Ich schwebte während Drehzeit und Postproduktion nicht selten zwei bis drei Zentimeter über dem Fußboden, wurde aber schließlich durch den ablehnenden Bescheid der Berlinale auf den Boden der Tatsachen zurück geholt. (Helmut Schulzeck)
Anmerkung:
* Hintergrund der Vorkommnisse an der DFFB war die Studentenrevolte. Die Politisierung der Berliner Studentenschaft hatte nach dem Schah-Besuch und der Tötung Benno Ohnesorgs durch einen Berliner Polizisten (der, wie sich erst Jahrzehnte später, nach dem Fall der Berliner Mauer, herausstellte, eigentlich ein Stasi-Agent gewesen war) auch die DFFB erreicht. Tilmann Baumgärtel sagte in einer Rede („Die Rolle der DFFB-Studenten bei der Revolte von 1967/68“) anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der DFFB 1996 dazu unter anderem: „Die DFFB stand zwei Jahre nach ihrer Eröffnung schon wieder kurz vor der Schließung. In dieser Krisensituation genügte eine Kleinigkeit, um das Fass zum Überlaufen zu bringen: Im November flogen die 18 renitentesten Studenten nach einem ’Go-In’ in das Büro des Akademiedirektors Rathsack aus der DFFB; auch Rektor Erwin Leiser musste kurz danach seinen Posten räumen. Die relegierten Studenten wurden bei einer Veranstaltung an der FU als Märtyrer der ’Bewegung’ gefeiert. Sie kündigten die Produktion von weiteren Filmen für den politischen Kampf an, und dann wurden gleich noch die Kameras eines SFB-Teams, das die Veranstaltung filmte, ’sozialisiert’, das heißt: den Journalisten abgenommen. (…)
Die Auseinandersetzungen um 1968 an der DFFB wurden in den folgenden Jahren zum Mythos aufgebauscht, dann gerieten sie in Vergessenheit – wohl, weil die Protagonisten nicht mehr an ihre ’Jugendsünden’ erinnert werden wollten. Oder weil es vielen aus dem ersten DFFB-Jahrgang während der ’bleiernen Zeit’ Ende der 70er Jahre nicht mehr opportun erschien, daran zu erinnern, dass sie einst mit Holger Meins studiert hatten. Der DFFB-Student Günther Peter Straschek schrieb später: ’Die Semester an der DFFB erinnern mich an ’Die Lümmel von der ersten Bank’ mit mir als Pepe, der Paukerschreck. Jedenfalls war der ganze Zinnober weniger ’Bewusstwerdung’ dann später Höhepunkt einer zuende gehenden Jugendunbeschwertheit, letztes Sichaustobenkönnen. Ein Stück Kino, das mit Film nichts zu tun hatte.’“ (Quelle: www.infopartisan.net/archive/1967/266705.html)
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