68. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2018: Forum
Dokumentarfilm als Waffe im Arbeitskampf
„Yama – Attack To Attack“ (Mitsuo Sato, Kyoichi Yamaoka, Japan 1985)
Mitte der 80er Jahre boomte die Baubranche in Tokio und anderen japanischen Metropolen. Skrupellose Bauherren stellten allein in der Hauptstadt Japans 8.000 Tagelöhner ein, die für einen Lohn an der Existenzgrenze Knochenarbeit leisten mussten. Das wenige, hart verdiente Geld wurde den Arbeitern meist in von Yakuza-Banden betriebenen Spielhöllen und Sake-Bars wieder abgenommen. Die Yakuza brachten auch den Arbeitsmarkt zunehmend unter ihre Kontrolle: Wer Arbeit wollte, musste sich ihren Bedingungen fügen, um zu überleben. Ein Teufelskreis. Als die Ausbeutung der Tagelöhner immer krassere Züge annahm, formte sich unter den Arbeitern Widerstand. Linke Studenten unterstützten die Proteste. Es kam zu gewalttätigen und fatalen Auseinandersetzungen mit den Yakuza und der Polizei.
„Yama“: Dokument des Arbeiterkampfs in japanischen Metropolen (Foto: Filmstill / Berlinale)
Die meisten der Tagelöhner lebten in ärmsten Verhältnissen im inoffiziellen Stadtteil San’ya. Das eigentlich namenlose Viertel grenzt an den historischen Rotlichtbezirk Tokios, dort war zu Zeiten des letzten Shogunats noch das Gefängnis zu finden. Die Tagelöhner, unterstützt von den Tokioter Studenten, organisierten sich in der „Sanya Dispute Organization“ und begannen sich zu wehren. Der junge, engagierte Regisseur Mitsuo Sato zog bereits Ende 1984 in das Viertel, um die Lebensverhältnisse in San’ya kennen zu lernen und den Streik zu dokumentieren. Im Dezember 1984 begann er mit den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über den Arbeitskampf und war sofort und stets mittendrin: Auf dreckigen Hinterhöfen bei den lautstarken Verhandlungen mit den ignoranten Managern der Baufirmen, bei den Rangeleien mit den Yakuza in den Straßen Tokios, beim Verfassen einer Betriebsvereinbarung in schäbigen Büros.
Satos Kamera ist immer direkt dran, nimmt die Perspektive der wütend diskutierenden und anklagenden Arbeiter ein. Ohne den Schutz der Yakuza waren die öffentlichen Diskussionen für die Arbeitgeber eher ein Public Shaming vor wütenden Tagelöhnern. Für gesittete Verhandlungen ist zu viel Druck auf dem Kessel. Die Arbeiter gewannen für kurze Zeit die Oberhand, neue Betriebsvereinbarungen wurden mit viel Sake und ausgelassenem Kabuki-Theater gefeiert. Doch der Etappensieg war schwer erkauft: Nicht nur Arbeiter mussten ihr Leben lassen, auch Regisseur Mitsuo Sato wurde von den Yakuza ermordet. Am Ende der Arbeitssaison 1984 zogen tausende obdachlose Arbeiter in ein von der Stadt im Dezember 1984 von den „Sanya Winter Struggle Support Volunteers“ organisiertes, spartanisch eingerichtetes Winterlager. Zugang hatte nur, wer einen Arbeitsnachweis von Januar bis September hatte. Eine Art Jahresbonus. Mit Solidaritätskonzerten und Verkauf von gebrauchtem Schuhwerk wurde für das Nötigste gesorgt. Die neuen Betriebsvereinbarungen änderten letztendlich nichts an den Lebensverhältnissen der Arbeiter. Aber zumindest gibt es eine Überlebenschance.
Im nächsten Jahr 1985 ging der Arbeitskampf weiter. Auch das Dokumentarfilmprojekt „Yama – Attack to Attack“ wurde fortgeführt: Kyoichi Yamaoka übernahm die Regie und richtete den Blick auf andere Stadtteile in den Metropolen Japans. Z.B. auf das Hafenviertel Kotobuki-cho in Yokohama, Sasajima in Nagoya, Chikko in Hakata oder Kamagasati in Osaka, die beide ebenfalls fest im Griff der Yakuza-Lohnhaie waren.
Dieselbe Situation allerorten, krasse Ausbeutung traf auf handfesten Widerstand. Und Regisseur Yamaoka fügt noch ein weiteres trauriges Kapitel der Arbeiterausbeutung in Japan hinzu und öffnet damit schon Mitte der 80er eine historische Dimension der Ausbeutung im Nachkriegs-Japan: Unzählige koreanische Tagelöhner standen bereits Jahrzehnte zuvor unter dem Joch ihrer Lohnherren. Von ihrer Geschichte zeugen bereits 1985 nur noch die wenige Überreste ihrer verfallenen Grabstätten, fast verschwunden unter einem Tierfriedhof. Im Januar 1986 wurde auch Kyoichi Yamaoka ermordert. Ein Mitglied der ultranationalistischen Konryu-Bande erschoss den engagierten Jung-Regisseur.
„Yama – Attack to Attack“ ist sicher nicht mit den üblichen formalen Maßstäben einer Dokumentation zu bewerten. Die Dokumentation ist im besten Sinn Mittel zum Zweck und Instrument im Kampf für gerechte Behandlung und Entlohnung von Tagelöhnern. Wie ein Rohschnitt wirkt die kommentarlose Aneinaderreihung von Szenen des Arbeiterkampfs, die sich nicht um Vorwissen schert oder versucht, einzelne Protagonisten als narrativen roten Faden zu etablieren. Der Film ist zudem parteiisch und macht daraus auch keinen Hehl. Es lag den Regisseuren nicht an einer objektiven Perspektive. Vielmehr vermittelt der Film einen unmittelbaren Eindruck von den Geschehnissen, konkret und authentisch. „Yama“ ist nicht nur ein Dokument des Arbeiterkampfs, sondern Teil des Widerstands selbst: Kamera und Leinwand als Waffen im Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und das organisierte Verbrechen.
Beide Regisseure von den Yakuza ermordet: Christoph Terhechte im Gespräch mit Ken Komi (Foto: dakro)
Manchmal muss der Film zu technischen Tricks greifen, so sind z.B. ganze Szenen nachvertont, wahrscheinlich weil mancher Dialog im Getöse des Straßenkampfs oder der Demonstration nicht verständlich aufgezeichnet werden konnte. Das schmälert den Eindruck dieses Zeitdokumentes nicht im Geringsten. Insbesondere der erste, auf San’ya fokussierte Teil ist von einer enormen Wucht und Prägnanz. Der Vergleich mit Barbara Kopples „Harlan County U.S.A.“(USA 1976) über die Minenarbeiter-Streiks hinkt vielleicht etwas, aber in seiner Bedeutung als Zeitdokument bewegt sich „Yama“ auf Augenhöhe mit dem Dokumentarfilm-Oscar-Gewinner. Es wundert nicht, dass „Yama“ bis heute ein prominenter Titel des „Screening Movements“ ist und nach wie vor und ausschließlich nur auf Filmvorführungen, meist in Japan, zu sehen ist. Es gibt keine kommerzielle Veröffentlichung, und so ist es der besondere Verdienst von Christoph Terhechte, dem Leiter des internationalen Forums des Jungen Films der Berlinale, eine 16-mm-Kopie des Films sowie Ken Komi, einen Mitarbeiter Satos und Yamaokas, nach Berlin gebracht zu haben, um „Yama“ dem Festivalpublikum zu präsentieren und seine unfassbare Produktionsgeschichte in Erinnerung zu rufen. (dakro)
„Yama – Attack to Attack“, JAP 1985, 110 Min., 16 mm, Farbe; Regie: Mitsuo Sato, Kyoichi Yamaoka; Kamera: Akira Takada; Montage: Kenji Hukuda; Ton: Shinpei Kikuchi; Mitarbeit: Kazuko Akamatsu, Tsuyoshi Araki, Hikozo Akamatsu, Bunpei Ikeuchi, Togo Kanda, Ken Komi, Satomi Sato, Gen Hirai; Produktion: „YAMA“ Production and Exhibition Committee Tokio, Japan