67. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2017

Schönheit und Vergänglichkeit auf dem flachen Land

“Aus einem Jahr der Nichtereignisse” (Ann Carolin Renninger, René Frölke, D 2017)

Körnige, analoge Filmbilder zeigen einen hochbetagten Mann, der sich mühsam mit einer Gehhilfe durch die Wohnräume und Stallungen eines Bauernhofes manöveriert. Jede Tür ist eine Herausforderung bei der Versorgung des kargen Geflügelbestands aus Hühnern und Gänsen. Willi lebt allein auf seinem Hof, der 90-Jährige versorgt sich noch selbst, erledigt noch routiniert das Alltägliche, wenn auch im Schneckentempo. Der Wollpullover sitzt nicht ganz an seinem Platz, das morgendliche Anziehen “muss halt schnell gehen”. Die Super-8-Kamera ist noch gar nicht soweit, die Tonspur über Schwarzbild lässt uns aber schon teilhaben an diesem intimen Moment zu Tagesbeginn.
Ein Jahr lang haben Carolin Renninger und René Frölke den resoluten Landwirt mit Super-8- und 16-mm-Kamera auf seinem Bauernhof im Norden Schleswig-Holsteins begleitet und beobachtet. “Aus einem Jahr der Nichtereignisse” ist aber kein geradliniger Portraitfilm, sondern öffnet dem Betrachter mit viel Gespür für Details und Atmosphäre ein kleines, scheinbar in sich geschlossenes Universum.
Selbstbestimmung bis ins hohe Alter: Willi auf seinem Hof
Wahrscheinlich jeder, der auf dem Land oder im Dorf aufgewachsen ist, wird sich an einen erwachsenen Einzelgänger in seiner Nachbarschaft erinnern. Eine Witwe oder einen Witwer womöglich, vielleicht einen ewigen Junggesellen. Anders als in der Stadt, die ihre sozialen Solitäre so leicht in einer anonymen Wohnung verbergen kann, bleiben auf dem Land auch allein lebende Menschen präsent, regieren meist ein Grundstück, selten einen ganzen Hof. Unter den Kindern weitergeflüsterte Geschichten und Gerüchte erzeugen eine Aura des Geheimnisvollen, manchmal Furchterregenden.
Für die gebürtige Flensburgerin Ann Carolin Renninger war es der Landwirt Willi, dessen verschrobene Exaltiertheit äußerste Vorsicht bei einer Begegnung auf dem Heimweg gebot, die aber gleichzeitig die jugendliche Neugier auf eine verwunschene Welt auf dem verwachsenen, chaotischen Bauernhof beflügelte.
Viele Jahre später kehrte Renninger mit ihrem Co-Regisseur und Kameramann René Frölke an den Ort ihrer Kindheit zurück, um Willi filmisch zu porträtieren. Ihr Film “Aus einem Jahr der Nichtereignisse” führt in eine versteckte Welt, die auf magische Weise aus Raum und Zeit gefallen zu sein scheint. Auf diese entrückte Atmosphäre lässt sich die Dokumentation auch mit filmischen Mitteln gänzlich ein. Das Super-8-Material ist bei den Innenaufnahmen oft fast unterbelichtet, in erdigen Farben lassen sich bald nur noch Umrisse wahrnehmen, man erahnt Willis Gesicht und die Gegenstände im Raum. Die Kamera gleitet über Bilder und Kram auf der Kommode, Reliquien aus einem langen Leben mit Familie. Die Katzen sind Willis einzige Gesellschaft, und der Film verbringt ebenso viel Zeit mit ihnen wie der Hausherr, der sich an ihrem leisen Schnarchen erfreuen kann.
Kameraarbeit mit Gespür für Atmosphäre und Details
Sonnendurchflutete, prall behängte Apfelbäume, durch die der Wind rauscht, sorgen für farblichen und atmosphärischen Kontrast in den Bildern. Das Leben in seiner vollen Blüte. Mit 16-mm-Material gefilmt, werden mehr Details sichtbar, ohne jedoch den aquarellartigen, poetischen Stil des Films zu verlassen. Auch Willi scheint in der sommerlichen Frische aufzublühen, er weiß, wo die besten Früchte hängen, und scheucht die Dokumentarfilmer durch das Gestrüpp: “Da kommt man schon ran!”
Aus einem Jahr der Nichtereignisse” ist zwar nicht darauf ausgelegt, Willis Biografie nachzuzeichnen, aber es gibt vereinzelte Verweise auf Lebensstationen. Willi schwamm in seiner Jugend gern im See, auch wenn die Dorfleute dies misstrauisch kommentierten. Später als Soldat in Italien rettete ihm das Schwimmen-Können sein Leben: Er flüchtete in letzter Minute vor den anrückenden Alliierten durch den Fluss Po. Es bleibt bei diesem kleinen Exkurs ins Biografische. Renninger und Frölke zeigen vielmehr die fast schon organische Symbiose des alten Manns mit seiner natürlichen Umgebung. Die Grenzen zwischen Gebäuden und Natur haben sich beinahe aufgelöst, manche Stallung scheint ebenso unzugänglich wie die Obstbäume. Vergänglichkeit und sprießendes Leben stehen selbstverständlich nebeneinander. Genauso selbstverständlich und pragmatisch erörtern die Landfrauen auf der goldenen Hochzeit, die Willi besucht, die Optionen ihrer Bestattung: Verbrennen oder Erdbestattung?
Kluge Wahl des Filmmaterials wahrt würdevolle Distanz zum Protagonisten
Aus einem Jahr der Nichtereignisse” gelingt es, die Vergänglichkeit allen Lebens in filmisch-poetischer Form einzufangen, ohne falsche Sentimentalität zu fordern. Im Gegenteil lenken Renninger und Frölke unseren Blick auf die Lebensfreude und den entwaffnenden Pragmatismus der gealterten Senioren auf dem flachen Land. Der Film, dessen Erzählstruktur und Tempo angenehm viel Raum für die eigene Kontemplation lässt, ist auch Plädoyer für den Mut zur Selbstbestimmung noch im höchsten Alter. Der grobkörnige Super-8- und 16-mm Film ist dabei nicht nur Referenz an eine vergangene (analoge) Zeit, die kluge Wahl des Material wahrt auch eine würdevolle Distanz zum Protagonisten. (dakro)
“Aus einem Jahr der Nichtereignisse”, Deutschland 2017, 83 Min., Schwarz-Weiß & Farbe, Super-8 und 16mm auf DCP; Regie: Ann Carolin Renninger, René Frölke; Kamera: René Frölke, Ann Carolin Renninger; Schnitt: René Frölke; Produktionsfirma joon Film, Berlin; Gefördert durch die Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein.
Cookie Consent mit Real Cookie Banner