18. Filmfest Schleswig-Holstein 2014

Das Wiedersehen, das nicht stattfand

„Schnee von gestern“ („Farewell, Herr Schwarz“) (Yael Reuveny, Deutschland, Israel 2013)

Wie kann jemand, der den Holocaust überlebt hat, mehr als 40 Jahre lang in unmittelbarer Nähe seines KZ weiterleben? In der Nachbarschaft zu den ehemaligen Lagerbaracken, in denen er sein Dasein fristen musste, die dann in der Nachkriegszeit zu Wohnhäusern „umgestaltet“ worden sind? In der Nachbarschaft zu den Ruinen einer ehemaligen Panzerfaustfabrik, in den er Zwangsarbeit verrichten musste, auch bewacht von jenen Nachbarn, die bis Kriegsende Lagerwärter im besagten KZ waren? Schon die ersten 15 Minuten des Dokumentarfilms „Farewell, Herr Schwarz – Schnee von gestern“ lassen den Zuschauer relativ fassungslos zurück. Und es klingt wie ahnungslose, unfreiwillig bittere Ironie, wenn ein langjähriger Bewohner der umgebauten ehemaligen KZ-Baracken vor seinem „Häuschen“ stehend freimütig bekennt: „Wir haben gut gelebt hier, es ist meine Heimat.“
Yael Reuveny erzählt in ihrem Dokumentarfilm „Schnee von gestern“ die Geschichte ihrer jüdischen Familie. Lange Zeit schien Michla, die Großmutter mütterlicherseits, die einzige Überlebende des Holocaust ihrer Generation in ihrer Familie zu sein. Ihre immer wieder erzählte Geschichte vom verpassten Wiedersehen mit dem geliebten Bruder Feiv’ke nach Kriegsende prägten die Kinderzeit von Yael, die zugleich nachforschende und zusammenführende Protagonistin in ihrem eigenen Film ist. Feiv’ke schien umgekommen und „nährte“ so das Jahrzehnte lang währende Trauma seiner Schwester Michla mit der Vergeblichkeit einer freudigen Hoffnung, die 1945 aufkeimte, als ein Bekannter der Großmutter während ihres Aufenthalts in Lodz erzählte, ihr Bruder sei noch am Leben, und sie könne ihn am nächsten Morgen im Bahnhof wiedersehen. Warum der Bruder nicht kam, bleibt Spekulation. War er überhaupt in der polnischen Stadt? Jedenfalls war er weder, wie kolportiert, in Treblinka getötet worden, noch in einer von polnischen Nationalisten angezündeten Unterkunft verbrannt, wie man der Schwester später erzählte. Er baute sich im brandenburgischen Schlieben als Peter Schwarz eine neue Existenz auf, heiratete eine „deutsche Nichtjüdin“, hatte drei Kinder und wurde zum gut integrierten HO-Verkaufsleiter in der kleinbürgerlichen DDR.
Feiv’ke und Michla Schwarz (aus: „Schnee von gestern“)
Yael Reuvenys Eltern leben in Israel und haben ihre verständlichen Vorbehalte gegen die Deutschen, kommen auch nur schlecht damit zurecht, dass ihre Tochter nun in Deutschland lebt, es als ihr momentanes Zuhause betrachtet. Yael ist ganz unverstellt, sucht nach den Spuren ihres Großonkels Feiv’ke im kleinstädtischen Milieu von Schlieben, begegnet der frappanten baulichen Situation vor Ort, den Bürgern, die in einer grenzenlosen Naivität anscheinend mühelos die Kunst der totalen Verdrängung beherrschen, und muss damit klar kommen, dass ihr Großonkel in so einer Umgebung blieb und mit allem und allen bis an sein Lebensende 1987 anscheinend seinen Frieden gemacht hatte.
Warum Feiv’ke nicht nach seiner Schwester gesucht hatte bleibt offen? Sein Sohn Uwe jedenfalls nimmt 1995 Kontakt zu Yaels Familie in Israel auf, schreibt Briefe und telefoniert mit Yaels Mutter Etty. Als diese damals ihrer Mutter, Feiv’kes Schwester, davon erzählte, wollte die 2001 Verstorbene nichts näheres darüber wissen; zu groß waren ihre Wunden. Sie schien nicht damit fertig zu werden, dass Feiv’ke nicht nach ihr gesucht hatte, eine Deutsche geheiratet und dort gelebt hatte.
Yael und Uwe schaffen es jedoch, familiäre Bande zu legen, nicht zuletzt dadurch, dass Uwe ganz offensiv Yael mit dem Wunsch nach familiärer Zugehörigkeit begegnet. Ihm gelingt es, durch Beharrlichkeit und Konsequenz Grenzen zu überwinden. Der finale Clou der Geschichte eröffnet sich allerdings durch Stephan, den Enkel von Peter ehemals Feiv’ke Schwarz. Sein Weg als Student jüdischer Geschichte, sein antizipierendes Verhalten gegenüber dem Judentum und seine Begeisterung für Israel lassen den Zuschauer seine Zukunft erahnen.
Yael Reuveny lässt uns an dem spannenden Prozess teilhaben, wie sie „die Bruchstücke“ des „kleinen, privaten Urknalls“ ihrer Familie zusammen sammelt. Dabei bewältigt sie die tragische Komplexität dieser Geschichte mit versöhnlicher Perspektive, ohne ihre eigene Verwundbarkeit und die Leerstellen des Unbegreiflichen zu verbergen. Wie nebenbei zeichnet sie dazu ein kleines, intensives Porträt ihrer Mutter, die ihrem Ehemann im Verstehenwollen und Verständnis vorraus zu sein scheint. So schenkt nicht nur der Besuch der Eltern bei Yael in Deutschland Hoffnung. (Helmut Schulzeck)
„Schnee von gestern“ („Farewell, Herr Schwarz“), Deutschland, Israel 2013, 96 Min., Farbe. Buch und Regie: Yael Reuvenyi, Kamera: Andreas Köhler, Schnitt: Nicole Kortlüke, Assaf Lapid, Musik: Volker Bertelmann. Filmförderung: Beauftragte/r der Bundesregierung für Kultur und Medien – Filmförderung, Film- und Medien Stiftung NRW, Kuratorium Junger Deutscher Film, Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH)[Filmwerkstatt Kiel], DEFA-Stiftung, Stiftung ZURÜCKGEBEN, The Rabinovich Foundation for the Arts (Tel Aviv), Greenhouse (Tel Aviv).
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