55. Nordische Filmtage Lübeck 2013
Langweiliges Leid
„Nordstrand“ (Florian Eichinger, D 2013)
2008 war Florian Eichinger mit „Bergfest“ im Filmforum vertreten. Jetzt kehrt er mit dem zweiten Teil seiner Trilogie (gefördert von der FFHSH) über familiäre Gewalt zurück. Ein Brüderdrama: Marten (30) und sein Bruder Volker (27) treffen im verlassenen Elternhaus an der Nordsee zum ersten Mal seit Jahren wieder aufeinander. Ihre Mutter soll bald aus der Haft entlassen werden, wo sie seit dem Tod des Vaters sitzt. Ob sie den Vater mordete oder nur mit dessen Todesfolge verließ, bleibt offen. Jedenfalls nahm ein Familiendrama seinen Lauf. Marten möchte den jüngeren Bruder dazu bewegen, die Mutter gemeinsam abzuholen. Doch Volker will von einem familiären Neuanfang nichts wissen, er scheint nur gekommen zu sein, um das Haus zu verkaufen. Seiner Mutter wirft er bis heute vor, dass sie nicht in der Lage war, ihn als Kind vor den (alkoholisierten) Übergriffen des Vaters zu beschützen. Und mit Marten, der sich als älterer Bruder mitschuldig an den damaligen Ereignissen fühlt, treibt Volker ein seltsames Spiel …
Marten kommt heim ins verlassene Elternhaus auf Nordstrand und macht erstmal bisschen sauber. „Lass mich bisschen ankommen“, bittet er alte Freundinnen, die an die Scheibe klopfen. Jetzt sitzen er und sein jüngerer Bruder Volker in der Familienruine zusammen, trinken und überdenken, was war, während das Elternhaus über (undichtes Dach) und unter (Ratten im Keller) ihnen wegrottet. Was war da? „Vadder war zwar ein Arschloch, aber er war wenigstens da“, sagt Marten. Und wo war „Mudder“, die „Vadder“, so ist zu vermuten, aus Verzweiflung über seine Trunksucht den Dolchstoß gab?
(Ver-) zweifelnde Brüder auf dem undichten Dach ihres Elternhauses (Still aus dem Film)
„Mir geht es besonders um stille, versteckte Gewalt, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Manchmal ist den Betroffenen der Einfluss, unter dem sie stehen, nicht einmal bewusst – obwohl er ihr ganzes Leben überschattet“, so Regisseur und Autor Florian Eichinger über seinen Film, der bei den 36. Grenzland Filmtagen Selb in der Wettbewerbs-Kategorie „Spielfilm“ mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde.
Ein Familiendrama so „slow move“ langweilig zu erzählen, hat freilich die Größe, die Langeweile des Leids zu evozieren. Es geschieht wenig bis nichts in diesem Film, weil vor ihm schon so viel geschah. Stoisch old-schoolig werden die Dialoge gegengeschnitten, und manche Sätze wirken wie Menetekel. Etwa wenn Marten zu Bruder Volker sagt: „Je weniger wir bei uns sind, desto weniger können wir uns vorstellen, dass es einen Grund gibt für unser Leben.“ So sprechen und langweilen allenfalls Philosophen, keine Figuren, die bei Eichinger wohl deshalb so theaterhaft überinszeniert erscheinen. Eichinger geht es immer ums Symbol, dafür opfert er die Lebendigkeit seiner Figuren. Und gewinnt sie auch wieder in Szenen wie der, wo Volker und seine Halb-Freundin Enna im Boot in der Nordsee untergehen, während er ihr seine Liebe gesteht, zu der er gar nicht fähig ist, weil ihn das Familiendrama so sehr verheerte.
Eigner inszeniert ein zutiefst unrealistisches Kammerspiel, das dadurch umso eindringlicher ist. Oder wie es Marten zu Bruder Volker sagt, während sie rauchen und trinken: „Ich hab’ hingenommen, dass du das Opfer bist, so konnten wir die Sache am Laufen halten.“ (jm)
„Nordstrand“, D 2013, 89 Min. Buch, Regie: Florian Eichinger, Kamera: André Lex, Produktion: Cord Lappe, Florian Eichinger, Bergfilm Produktion & Verleih, Darsteller: Martin Schleiß (Marten), Daniel Michel (Volker), Luise Berndt (Enna), Anna Thalbach (Mutter), Rainer Wöss (Vater), Martina Krauel (Frau Suhren). www.nordstrandfilm.de.