55. Nordische Filmtage Lübeck 2013

Aus der Not geboren

„Lampedusa auf St. Pauli“ (Rasmus Gerlach, D 2013)

Seit Anfang Oktober dieses Jahres bei dem Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel Lampedusa mehrere Hundert Afrikaner ums Leben kamen, ist das Flüchtlingsthema wieder hochaktuell. Wie geht Europa mit dem nicht abreißenden Flüchtlingsstrom um, der sich von Afrika übers Mittelmeer vor allem nach Italien „ergießt“? Schaffen wir es, diesen Menschen eine menschenwürdige Zuflucht zu gewähren, oder sind wir bloß auf Abwehr bedacht, weil wir der irrationalen Angst aufsitzen, dass unser „Boot schon voll“, unser Wohlstand bedroht sei oder wie auch immer die restriktiven Argumente lauten mögen.
Seit Mai 2013 lebten ca. 300 Flüchtlinge, die 2011 vor dem Bürgerkrieg in Libyen nach Lampedusa flohen, in Hamburg auf der Straße. Sie hatten in Italien ein drei Monate gültiges Schengen-Visum bekommen und hofften nun in Deutschland auf eine Gruppenanerkennung als Asylanten. Der Hamburger Senat machte bestenfalls anfangs gar nichts, hoffte mit Ignoranz, das Problem aussitzen zu können. Ab Anfang Juni fanden 80 der Flüchtlinge Unterkunft in der St.-Pauli-Kirche, durften dort im Kirchenraum auf Matratzen nächtigen, wurden mit Kleidung und Essen versorgt. Der Dokumentarfilmer Rasmus Gerlach, der in der Nachbarschaft wohnt, beschloss als filmender Chronist, den Fortgang dieses besonderen Kirchenasyls zu verfolgen.
Entstanden ist so eine über den Zeitraum von vier Monaten sich erstreckende Dokumentation, die das Leben der Afrikaner und ihrer Unterstützer rund um die Kirche beobachtet. Stellungnahmen und kurze Erzählungen der Flüchtlinge, der verantwortlichen Pastoren und vieler ehrenamtlicher Helfer durchziehen den Film „Lampedusa auf St. Pauli“. Er dokumentiert ein aus der Not heraus geborenes Provisorium, das zur Normalität und Routine für Flüchtlinge und Helfer wird. Die solidarische Hilfe in der Kirche wird fast generalstabsmäßig organisiert, geschieht tagtäglich, ganz selbstverständlich. Der Film beobachtet und dokumentiert Mosaiksteinchen von interessierter und kreativer Unterstützung: Ein Helferteam vom „Spendenwart“ über die Deutschlehrerin bis zum Security-Leiter findet sich zusammen; Essens- und Sachspenden werden abgegeben; eine Schulklasse kommt zu Besuch und wird vom Pastor ausführlich informiert; ein Fußballspiel der Afrikaner mit einer Mannschaft des FC St. Pauli findet statt, genauso wie die Aufführung eines Flüchtlingsstückes von Elfriede Jelinek unter Mitwirkung der Afrikaner, das vom Thalia-Theater in der Kirche inszeniert wird, u.s.w. Bei allem ist Rasmus Gerlach als filmender Zaungast dabei, versucht immer wieder, mehr von den Afrikanern zu erfahren, fragt nach, wenn er es für richtig hält, interviewt die Bischöfin, lauscht Günther Wallraff, wenn dieser im Gespräch mit einem der Pastoren über seine Methode schwadroniert.
Afrikanische Flüchtlinge im Kirchenasyl auf St. Pauli (Still aus dem Film)
Im Hintergrund spielt sich ein politischer Kampf zwischen Hamburger Senat und den Flüchtlingen, beziehungsweise ihrer Solidaritätsszene ab. Bisweilen wird darüber gesprochen, diskutiert oder vor der Kamera berichtet, ohne dass der Film diesen Aspekt immer stringent weiter verfolgt. Ebenso wenig werden eines oder mehrere Einzelschicksale ausführlicher dargestellt. Man erfährt, dass viele der Flüchtlinge aus Ghana kommen und sich wohl in Libyen als Kontraktarbeiter verdingt haben, bis sie vor gewalttätigen Rebellen die Flucht ergreifen mussten. Gerne würde man Empathie und Identifikation mit ihnen noch mehr gefördert sehen. Doch dazu sind die Afrikaner bei aller Freundlichkeit zu wortkarg und verschlossen. Sind die Ursachen ganz simpel Sprachschwierigkeiten oder ihre Traumata, die sie durch die lebensbedrohliche Situationen in Libyen oder auf der Flucht davongetragen haben mögen, oder ist es ihre Vorsicht, die sich z.B. aus all den Erfahrungen mit der kasernierten Massenaufnahme in Italien oder der feindlichen Abwehr durch italienische und deutsche Behörden speisen mag?
Was authentisch von der eigentlichen Flüchtlingsdramatik bleibt sind bedrückende Handy-Aufnahmen von waghalsigen Fluchten durch die Wüste und über das Mittelmeer. Dazu Erinnerungen an Hunger und Durst. Handy-Filmchen als gerettete Zeugnisse von todesmutigen Kämpfen jener, denen keine andere Wahl blieb. Verhuschte Bilder von einem Lastwagen, der sich durch den Wüstensand kämpft. Er ist mit Flüchtlingen über und über besetzt. Nicht nur die Ladefläche ist übervölkert, sondern auch an den Außenflächen klebt viel – wohl Gepäck. Ein „Klumpen“ Flucht. Oder ein großes Schlauchboot, das an libyschen Ufern strandet, nachdem eine große Luftkammer geplatzt ist. – Und jetzt harren sie in Hamburg aus, wo von ihnen mit lachenden Gesichtern und einer großen Unterstützer- und Solidaritätsbewegung gegen die Vergeblichkeit ihrer Verzweiflungstaten angekämpft wird.
Handy-Filmchen zeigen einen „Klumpen“ Flucht (Still aus dem Film)
Die Geschichte der Flüchtlinge in Hamburg ist noch nicht zu Ende, der Ausgang scheint offen. Vielleicht hat Rasmus Gerlach seinen Film zu früh beendet. Eine „Langzeitbeobachtung“ dürfte auch ruhig länger beobachten; aber vielleicht geschieht das ja auch noch. Dieser interessante Film zeigt einen Zwischenstand, fürs Ende schwant einem Schlimmes. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. (Helmut Schulzeck)
„Lampedusa auf St. Pauli“, D 2013, 87 Min., Farbe. Buch, Regie, Schnitt und Produktion: Rasmus Gerlach, Kamera: Irina Linke, Paul Kulms und Rasmus Gerlach.
Der Film lief bei den NFL in der Sektion „Filmforum“ am Donnerstag, 31.10.2013, 22.45 Uhr im CineStar 7.
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