63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013

Insgesamt enttäuschend

Ein Rückblick auf den Wettbewerb

Berlinale im digitalen Fortschreiten auf der einen Seite, als Festival-Event der Filmkunst jedoch ein Ort für einen sich einschleichenden Anachronismus. Mit dieser Überschrift könnte man das diesjährige Filmfestival im winterlichen Berlin betiteln. Der zweite Teil darin ist nicht polemisch zu verstehen. Eine „Gefährdung“ der Berlinale geht aber schleichend vonstatten, im Zeichen technischer Verfügbarkeit der Filme und internationaler Konkurrenz von Festivals sowie anderer Filmverwertung.
Nur noch 8 Prozent der „Berlinale-Filme“ (Festival und Europäischer Filmmarkt) wurden im 35mm-Format angeliefert, der Rest in den insgesamt 2.500 Vorführungen, kam in digitaler Projektion auf die Leinwand. Das heißt, entweder wurden die Filme vorher von Festplatte auf den Server im Kino überspielt oder, was bald die Regel sein wird, die Filme kamen direkt aus dem „Film Office“, aus einer Nebenstraße am Potsdamer Platz, via Intranet zum Projektor. Aus Sicherheitsgründen wurden alle digitalen Filme vielfach verschlüsselt. Fast 100.000 Dekodierungsdateien gab es für den Berlinale-Betrieb. Jeder digitale Film benötigte zur Vorführung mehrere Dutzend davon. Jeder Kinosaal, jeder Projektor, jede Vorführzeit hatte eine spezielle nur einmal zu verwendende Verschlüsselung für jeden einzelnen Film. Hätte sich eine Vorführung über den vorgesehenen Zeitraum im Programmslot hinaus verschoben, wäre der Zugriff auf den digitalisierten Film ungültig geworden und man hätte die Verschlüsselungen neu kodieren müssen, was bisweilen, so steht zu vermuten, auch geschehen ist. Das digitale Leitungsnetz der Berlinale ausgehend von den Speicherservern der Zentrale versorgte diesmal schon 20 der 60 Kinos. Im nächsten Jahr sollen alle Filmsäle rund um den Potsdamer Platz angeschlossen sein.
Der Filmvorführer im Saal wird dann bei digitalen Vorführungen nur noch Statist sein. Er drückt nur noch auf den Startknopf. Eine Reminiszenz an frühere Zeiten, wenn man so will. Selbst das könnte natürlich vom „Film Office“ aus erfolgen. So geht eine Revolution in der Vorführtechnik hinter den Kulissen vonstatten, ohne dass die Mehrheit des Publikums etwas davon mitbekommt. In einem geradezu nostalgischen Kontrast dazu, polemisch registriert, von vorgestern kommend, steht das Kuratorenverfahren eines großen Festivals wie der Berlinale. Die Gremien schauen in alle Welt und Filmanmeldungen nach Sehenswertem und womöglich Neuem. Qualität bleibt dabei nicht selten Illusion, wenn man Programm und einzelne Filme näher und ehrlich betrachtet und beurteilt. Aber das Publikum strömt herbei. Es bekommt seinen Event und Starrummel. Fehlen nur noch gute Filme.
Rund eine Woche nach Festival-Ende wartete die Presseabteilung der Berlinale mit Erfolgszahlen auf. Mit 303.077 verkauften Eintrittskarten stellte die Berlinale einen neuen Rekord auf. Das Interesse der Fachbesucher blieb „trotz der gegenwärtigen Wirtschaftslage konstant“, wurde bilanziert. 19.630 Akkreditierte (darunter 3.694 Pressevertreter) aus 124 Ländern hätten das Festival besucht. Auch der Europäische Filmmarkt (EFM) der Berlinale meldete gute Zahlen. 816 Filme mit 1.166 Screenings in 40 Spielstätten an 9 Marktagen sowie 8.000 Teilnehmer aus 95 Ländern wurden registriert. Auch hier somit neue Rekordzahlen. Das Festival selbst suchte 404 Filme (inklusive Kurzfilme) aus 6.812 angemeldeten Filmen für sein Programm aus. Insgesamt gab es hier 878 öffentliche sowie 128 Pressevorführungen. Noch zwei Zahlen zur Abrundung: Die Berlinale (und dazu gehört noch mehr als das Festival) verfügt 2013 über ein Jahresbudget von 19,5 Mio. Euro, davon 6,5 Mio. Euro Steuermittel.
Man könnte also meinen: alles in Ordnung. Quantitativ mag das auch stimmen. Aber noch nie in den letzten Jahrzehnten wurde vieler Orten über ein so schwaches Wettbewerbsprogramm geklagt wie dieses Jahr, und auch in den anderen Sektionen gab es für viele Besucher wenig Neues und Gutes. Woran lag das, fragt sich der besorgte Berlinale-Fan. Letztlich gültige Antworten können wohl nur Festival-Leiter Dieter Kosslick und seine Auswahlgremien geben (wenn sie wirklich wollten). Aber einiges scheint sich doch klar auch für andere abzuzeichnen. Berlin scheint nicht erst seit 2013 der Verlierer im Wettbewerb der drei großen A-Festivals gegen Cannes und Venedig zu sein. Das mag auch am schon oft beklagten ungünstigen Wintertermin liegen, der so kurz vor der Oscar-Verleihung in Hollywood liegt, dass das Festival nicht einmal mehr als europäische Startrampe für Spitzenproduktionen aus dem US-amerikanischen Mainstream genutzt wird. Viele andere wollen eher nach Cannes, und Venedig veredelt beständig seinen Ruf als Forum für den Autorenfilm. Bleibt für Berlin nur der Spitzenplatz als Publikumsfilmfest. Aber dafür ist nicht unbedingt ein Wettbewerb von Nöten, jedenfalls nicht ein solcher, in dem eine Enttäuschung die nächste jagte und es so gut wie keinen wirklich herausragender Film gab.
Einen Spitzenplatz von unten im Wettbewerb belegte im Kritikerecho und beim Publikum „Gold“ von Thomas Arslan. Einige mochten diese fast zwei Filmstunden dauernde handlungsarme Reiterei deutscher Emigranten durch den kanadischen Westen noch für künstlerisch hochwertiges Kino vom feinsten der umstrittenen Berliner Schule halten, andere, und sie waren bei weitem die Mehrheit, hingegen sprachen hämisch vom „Reiten für Deutschland“, gestelztem Elend und ähnlichem. Jedenfalls ließ der Film jegliche Empathie für seine Figuren vermissen und rief auch wenig Interesse für die Handlung beim Publikum hervor, zermürbte nicht nur seine Protagonisten sondern auch den gelangweilten Zuschauer. Ein trister Ablauf prägte den Gesamteindruck. Allenfalls durfte man bisweilen die schöne Landschaft und eine sorgfältige Ausstattung auf der Habenseite vermerken.
„Reiten für Deutschland“: Thomas Arslans „Gold“
Und das war nun der einzige rein deutsche Beitrag (Regie und Produktion) im Wettbewerb. Soll es da wirklich nicht noch anderes gegeben haben? Staunend suchte man hier in der Hauptsektion nach Dieter Kosslicks sonst so fruchtbarem Engagement für den deutschen Film. Vielleicht war da dieses Jahr ja wirklich nicht mehr auszuwählen, andere Filme wurden nicht rechtzeitig fertig (so erzählte man sich von Dominik Grafs neuem Film) oder ihre Macher wollten tatsächlich lieber nach Cannes? Aber das Festival dort zeigt doch schon seit Jahren nur recht wenig deutsche Filme. Es fiel aber z.B. schon auf, dass der sonst so vom Festival hofierte Regisseur Oskar Roehler („Elementarteilchen“ und „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ in den letzten Jahren im Wettbewerb; zugegeben: beides eher schwache Filme) seinen neuen Film „Quellen des Lebens“ zeitgleich zur Berlinale in die Kinos brachte.
Wie mäßig der Wettbewerb mit 24 Filmen (5 Filme davon außer Konkurrenz) war, lässt sich indirekt auch an den wenigen Filmen (kaum eine Handvoll) ablesen, die sehenswert waren.
„An Episode in the Life of an Iron Picker“ des serbischen Regisseurs Danis Tanović ließ in seiner schlichten Eindringlichkeit aufhorchen. Authentisch und ohne Schnörkel brachte er sein Thema auf die Leinwand. Geschildert werden wenige Tage aus dem Leben einer Roma-Familie in Bosnien-Herzegowina. Diese lebt unter sehr ärmlichen Verhältnissen mit ihresgleichen in einem heruntergekommen siedlungsähnlichen Dorf. Eine Existenz „von der Hand in den Mund“, bei der von den Menschen dort nicht weiter als bis zum nächsten Tag gedacht werden kann. Der Film hält gleichmäßig seinen dokumentarischen Charakter, wobei man wissen muss, dass die handelnden Personen ihr eigenes Schicksal nachspielen. Und es ist schon erstaunlich, mit welch einer Intensität und auch relativ Gelassenheit die Darsteller ihr Schicksal noch einmal vor der Kamera „durchleiden“. Nazif (Nazif Mujić), der Vater der kleinen, vierköpfigen Familie, schlachtet zum Lebensunterhalt alte Autos aus, um dann das Altmetall an den Schrotthändler zu verkaufen. Das hält ihn und die Seinen nur knapp über Wasser, zumal in der kalten Winterzeit, in der es keine weiteren Jobs für ihn zu geben scheint. Seine schwangere Frau Senada (Senada Alimanović) ist Hausfrau und versorgt ihre beiden kleinen Töchter. Der Alltag beider wird nun en Detail in aller Ruhe von der Kamera festgehalten. Nazif schlägt illegal einen Baum im angrenzenden Gehölz, macht Kleinholz für Herd und Ofen, hilft seinem Bruder beim Zerhacken eines Kleinwagenwracks. Senada hält das Haus in Ordnung, wäscht, kocht und backt. Ihr Alltag ist lebensgefährlich bedroht, als sie stechende Schmerzen im Unterleib verspürt und sich bei einer Untersuchung im Krankenhaus herausstellt, dass der Fötus im Leib der werdenden Mutter tot ist. Das Krankenhaus fordert für die Operation Senadas, eine für die nicht krankenversicherte Familie sehr hohe, unbezahlbare Summe, weigert sich ansonsten, ihr zu helfen. Erst nachdem Senada unter Vorspiegelung einer anderen Identität eine Versicherungskarte aus der Verwandtschaft beibringen kann, wird der mit dem Tod bedrohten Frau schließlich in einer anderen Klinik geholfen. Dem Film gelingt in seiner nüchternen Darstellung eine harte Klage über die gegebenen Verhältnisse. Ein mahnender Blick auf Minderheiten wie die Roma, die nicht nur in Osteuropa so an den Rand gedrängt werden, dass Existenz und Leben latent gefährdet sind.
Harte Klage über die gegebenen Verhältnisse: „An Episode in the Life of an Ironpicker“
„Harmony Lessons“ aus Kasachstan weiß als überraschendes Debüt des jungen Regisseurs Emir Baigazin eine dramatische Mobbing-Geschichte spannungsreich mit Gesellschaftskritik zu verbinden. Der ironische Filmtitel steht in einem seltsamen Kontrast zum Thema des Film: Gewalt. Der Film beginnt mit gekonnten, bedacht konstruierten, ruhigen Festeinstellungen, die vom später thematisierten Sadismus und der ausführlich dargestellten Gewalt und Folter nichts ahnen lassen. Zwar wird in den ersten Filmminuten auch Gewalt ausgeübt. Aber das hier gezeigte Schlachten eines Schafes auf traditionelle Weise, man lässt das Tier lebendig ausbluten, ist nicht sadistisch angelegt, sondern dient nur der Nahrungsbeschaffung. Das Schächten ist auch mehr zu erahnen, als dass es tatsächlich gezeigt wird. Man sieht den Schnitt in die Kehle des Tieres nicht, auch nicht das auslaufende Blut. Später hingegen beginnt die Hauptperson des Films (Timur Aidabekov), ein 13-jähriger Junge, nachdem er von seinen Mitschülern beständig gemobbt wird, mit seltsamen, quälenden Tierexperimenten. Der Junge „amputiert“ Kakerlaken seziererisch präzise einzelne Beine oder spannt die Insekten in ein Drahtmodell ein und tötet sie mit Stromschlag wie auf einem elektrischen Stuhl. Diese vom Film in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit gezeigten Sadismen werden später noch auf den Jungen zurückfallen, wenn er von der Polizei in Routine ihrer Mordermittlungsarbeit gefoltert und in seinen Albträumen selbst zum Todesdelinquenten wird. Der Film entwirft in seiner ruhig sich entwickelnden Geschichte ein erschreckendes latentes Gewaltpanorama. Es zeigt sich nicht nur bei kriminellen Jugendlichen, die ihr erpresserisches Unwesen in der Schule treiben, sondern auch bei der Polizei, die in ihren autoritären Strukturen gezwungen scheint, möglichst schnell einen Schuldigen zu präsentieren, selbst wenn es der Falsche sein sollte. Das fragwürdige Ergebnis soll ihre brutalen Methoden rechtfertigen. Erstaunt vernahm man auf der anschließenden Pressekonferenz, dass der Film öffentliche Fördergelder vom kasachischen Staat bekommen hätte, konnte es gar nicht glauben, wo man sich zuvor doch schon während der Vorstellung gefragt hatte, wie dieser erstaunliche Film an der Zensurbehörde des autoritär regierten Kasachstan vorbei auf die Berlinale kommen konnte. Gewiss werden hier Phänomene angeprangert, die nicht nur für Kasachstan gelten, doch Verwunderung über die ermöglichte Realisation des Films blieb doch zurück. Zu hoffen bleibt, dass „Harmony Lessons“ seinen Weg auf hiesige Leinwände findet und nicht nur im Spätprogramm von Arte landet.
Beklemmende Folterstudie: „Harmony Lessons“
„Pardé“ (was übersetzt „geschlossene Vorhänge“ heißt), ein Film des bekannten iranischen Filmemachers Jafar Panahi, in der Regie in Zusammenarbeit mit Kamboziya Partovi entstanden, wurde illegal im Iran gedreht und an den staatlichen iranischen Behörden vorbei auf die Berlinale geschmuggelt. Panahi wird mit sechs Jahren Gefängnis bedroht und ist mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt. Es wurde vorher schon erwartet, dass er für seinen Film mit einem Preis, auch aus politischen Gründen, geehrt würde. Und so erhielt er den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Die autobiografische Geschichte vom bedrohten Drehbuchautoren, der sich in einer abgeschiedenen Villa eines Freundes versteckt, sich vor der Außenwelt in Sicherheit bringt, indem er alle Fenster und Türen lichtdicht verrammelt und verschließt, ist gewiss nicht uninteressant. Ein Spiel zwischen Realität und Fiktion, das sich sehr deutlich als Selbstzeugnis des verfolgten Regisseurs Panahis lesen lässt. Doch der Film leidet doch schon ziemlich bald an einem Zuviel seines zeichenhaften Charakters. Jede Figur und alles, was geschieht oder gesagt wird, hat noch eine Bedeutung hinter dem Gezeigten. Nur Filmemacher Panahi, der nach zwei Dritteln der Filmhandlung selbst als beobachtender Zeuge und zugleich Handelnder in seinem eigenen Film auftaucht und seinen gleichnishaft agierenden Figuren begegnet, scheint neben einigen Randpersonen real am Schauplatz zu existieren. Von den anderen wird ständig mit dem Bedeutungszaunpfahl gewunken. Die „Kopfgeburten“ Panahis ermüden auf Dauer und schwächen manchen schönen Drehbuch- und Regieeinfall. Im Grunde genommen ist „Pardé“ ein Film für Insider, Film-Ikonografen sowie Filmjournalisten und findet somit auf einem Festival wie der Berlinale sein geeignetes Forum.
Wink mit dem Bedeutungszaunpfahl: „Pardé“
Abschließend stellt sich die Frage, ob man wirklich an dieser Stelle noch all den mittelmäßigen Wettbewerbsfilmen mit Erwähnung im Nachhinein Beachtung schenken sollte. Wohl kaum. Stellvertretend sei deshalb bloß eine der zahlreichen Enttäuschungen genannt. Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“ verwechselt nicht zum ersten Mal eine zur ständigen Provokation neigende Filmgeschichte, nennen wir sie: dokumentarisch angehauchte Spielfilmsimulation, die müßig wirkt und deshalb schnell langweilt, mit einer ehrlichen Behandelung eines Filmthemas, das interessieren könnte. Am Rande des Versuchs, womöglich eine „pädophile“ Problematik zu markieren, verliert sich die Geschichte um eine 13-Jährige in einem Diätcamp, die eine fast gefährliche, pubertäre Schwärmerei für ihren 40 Jahre älteren Arzt entwickelt, in einem fast degoutanten Wollen aber nicht Können. Dies gilt nicht nur für die Filmgeschichte und ihre Protagonisten, sondern leider auch für den Regisseur. (hsch)
Degoutantes Wollen aber nicht Können: „Paradies: Hoffnung“
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