63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013

Über die Schwierigkeiten einer Literaturverfilmung

„Night Train to Lisbon“ (Bille August, D/CH 2013)

Regisseur Bille August hat sich an die Verfilmung des Romans „Nachtzug nach Lissabon“ herangemacht, was ein nicht ganz leichtes Unterfangen darstellt, da der 500 Seiten starke Bestseller des Schweizers Pascal Mercier mit weit ausschweifenden philosophischen Exkursen in einer poetischen Sprache gespickt ist, die sich nicht ohne weiteres in eine Spielfilmhandlung einbringen lassen. August ist nun nicht in Gänze mit diesem Film gescheitert. Das zu behaupten, wäre übertrieben. Doch er meistert nicht unbedingt die Herausforderungen, die solch eine Romanverfilmung an ihre Realisation stellt, sondern liefert einen eher durchschnittlichen Film ab, der seine Längen hat und auch im Fortgang der Handlung dem Zuschauer bisweilen ein nur mäßiges Interesse abzugewinnen vermag.
Der Schweizer Gymnasiallehrer und Altphilologe Raimund Gregorius (Jeremy Irons) bewahrt eine junge Portugiesin eines Morgens auf dem Weg zur Schule vor dem Selbstmord. Er nimmt sie spontan mit in seinen Unterricht, aus dem sie kurz darauf entflieht und ihren roten Mantel zurücklässt. Auf der Suche nach ihr entdeckt der Lehrer schließlich in dem Mantel ein kleines portugiesisches Buch, „Um ourives das palavras“ („Ein Goldschmied der Worte“) von einem gewissen Amadeu Inácio de Almeida Prado, und in diesem eine Zugfahrkarte nach Lissabon. Auf den Bahnhof geeilt, steigt Gregorius, ebenso spontan wie schon zuvor handelnd, ja hier sogar überstürzt, in den zur Abfahrt bereitstehenden Zug nach Lissabon. Im Zug schließlich liest er, erstaunlicherweise ohne Sprachprobleme, den portugiesischen Text, ist von seinem Verfasser und dem autobiografischen Inhalt fasziniert und will dem Ursprung dieser Lebensbeichte auf die Spur kommen.
Abschied am Bahnhof (Jeremy Irons und Martina Gedeck)
Schon diese geraffte Schilderung der ersten fünfzehn Filmminuten offenbart ein Dilemma des ganzen Films, an dem das Drehbuch die Hauptverantwortung trägt. Vieles ergibt sich für die Hauptfigur und andere Personen spontan, aber die eigentliche Motivation für ihr Handeln „erreicht“ sie oft erst danach. So liest Gregorius den ihn faszinierenden Text bis auf wenige kurze Passagen erst im Zug nach Lissabon und bekommt so vom Drehbuch erst im Nachhinein den Grund für seine kopfüber erfolgte Abreise ohne Gepäck, praktisch nur mit dem Büchlein und dem roten Mantel der jungen Frau, geliefert. In der Romanvorlage bleibt die Logik des Handelns in Chronologie gewahrt; dort entziffert der Sprachenbegabte eher mühsam mit Hilfe eines portugiesischen Wörterbuches den Inhalt des gefundenen Buches und entschließt sich dann, angezogen von Geist und Ausdruck dieser Zeilen, nach Lissabon zu reisen.
Im Folgenden stehen immer die Personen bereit und scheinen nur darauf zu warten, sich ausgerechnet für den empfindsamen Geschichtstouristen Gregorius aus der Schweiz in Portugal offenbaren zu dürfen. Meist mit Erinnerungen, die in Rückblenden wieder zum Leben erwachen.
Der Film will in diesen Rückblenden eine Familiengeschichte erzählen und zugleich noch die Schicksalhaftigkeit einer Dreiecksgeschichte entfalten. Die dramatischen Ereignisse im Vorfeld der „Nelkenrevolution“, die 1974 die Militärdiktatur in Portugal fast unblutig zu Fall brachte, bilden dabei nicht nur den Hintergrund, sondern stellen die Protagonisten vor lebensentscheidende Herausforderungen. Freundschaft, Liebe, Loyalität und Vertrauen werden durch Eifersucht und Misstrauen geprüft. In einem Vater-Sohn-Drama gibt es am Schluss nur Verlierer, und die brüderliche Freundschaft zweier junger Revolutionäre zerbricht an ihrer Liebe zu einer politisch gleich gesinnten Freundin. Blicke in die portugiesische Oberschicht und die intellektuellen Kreise der Studenten versuchen, Teile der Gesellschaft abzubilden.
Doch selbst wenn man die Romanvorlage nicht kennt, beschleicht einen auch am Schauplatz Lissabon schon bald der Verdacht, dass der Film seinen gestellten Themen oft nicht gerecht wird. Die Handlung bremsen zu viele lange Dialoge, zu dem wird der Erzählfluss durch den beständigen Wechsel zwischen Erzählgegenwart und den vielen Rückblenden gestört. Es scheint nur bedingt gelungen, das Deskriptive der Romanvorlage mit ihren philosophischen Einschüben in eine stringente Spielfilmhandlung zu übertragen. Eine gewisse Spannung ist dem Film durch die Verrätselung im Ablauf seiner Ereignisse nicht abzusprechen. Unwahrscheinlich scheint es jedoch, dass sich die meisten Zeitzeugen per se in ihren eher störrischen Charakteren zuerst als introvertiert und geradezu auskunftsfeindlich präsentieren, um dann beim Erscheinen Gregorius’, quasi ohne sein Zutun, sehr schnell förmlich mit ihren Erinnerungen aufzusprudeln, so als ob sie nur auf ihn gewartet hätten. Auch die kulturelle und sprachliche Differenz zwischen Portugal und der Schweiz scheint kein Hindernis darzustellen. Alle (gespielten) Portugiesen geben Gregorius im akzentvollen Englisch, das ja wohl inzwischen in fast ganz Europa die Landessprache ersetzt hat, jedenfalls beim so genannten „Europuddingfilm“, wortgewandt Auskunft.
Einer der vielen bekannten Schauspieler in „Night Train to Lisbon“ („Nachtzug nach Lissabon“) ist Bruno Ganz. Doch der Film wird leider nicht besser durch ihn. Wie er besonders in einer seiner ersten Szenen mit akzentgefärbtem Englisch auf heller Stimme den alt gewordenen, ehemaligen portugiesischen Widerstandskämpfer, den er darstellt, versucht aus sich „herauszuquälen“, das hat beinahe schon unfreiwillig Satirequalitäten und erinnert stark an die Hilflosigkeit, mit der Angelopoulos vor ein paar Jahren in seinem letzten Berlinale-Film „The Dust of Time“ ein Gespräch auf Englisch zwischen Ganz und Michel Piccoli ablaufen ließ.
Ein alter Kämpfer erinnert sich (Bruno Ganz mit Jeremy Irons)
Mit neun Filmförderungen sowie zwei sich beteiligenden Fernsehsendeanstalten (ZDF und SRG) hat „Night Train to Lisbon“ mit einem wohl dicke ausreichenden Budget realisiert werden können (laut IMDB geschätzte 7,7 Mio. €). Und gewiss hat der Film gerade zu Beginn, wo er mit eindrucksvoller Sprache aus dem Off (Romanzitate) zu gewinnen weiß, und am Schluss, wo er mit seinem offenen Ende der Fantasie wieder Raum gewährt, starke Momente. Insgesamt aber tut sich besonders das Drehbuch doch reichlich schwer, philosophisches Gedankengut mit einer spannenden Handlung aus der Zeitgeschichte in Einklang zu bringen. Die Ideenwelt eines anspruchsvollen Bestsellers sträubt sich gegen eine dramatische, handlungsreiche Filmgeschichte. (hsch)
„Night Train to Lisbon“ („Nachtzug nach Lissabon“) D/CH 2013, 110 Min., Buch: Greg Latter und Ulrich Herrmann, Regie: Bille August, Kamera: Filip Zumbrunn, Schnitt: Hansjörg Weissbrich, Darsteller: Jeremy Irons, Mélanie Laurent, Jack Huston, Martina Gedeck, Tom Cuortenay, August Diehl, Bruno Ganz, Charlotte Rampling, Lena Olin, Förderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH) und andere.
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