Eckhard Pabst:

Einführungsrede zur Premiere von “Revolution 18” von Kai Zimmer

Vor gut zehn Jahren brachte Heinrich Breloer den Fernsehmehrteiler DIE MANNS – EIN JAHRHUNDERTROMAN heraus. Wie mittlerweile für alle größeren TV- und Kinofilme üblich erschien seinerzeit natürlich auch ein Buch zum Film. Als ich dieses Buch durchblätterte, blieb mein Blick an einem Bild von Arnim Müller-Stahl hängen. Die Bildunterschrift lautete: “Thomas Mann in Princeton”. Vielleicht werden wir ja noch Zeiten erleben, in denen wir die Neuauflage eines Geschichtsbuches aufschlagen und darin ein Foto von Bruno Ganz sehen mit der Bildunterschrift “Hitler im Führerbunker”.
Sicherlich ist die irreführende Bildunterschrift in einem Filmbuch keines der drängensten Probleme unserer Zeit. Ich möchte hierin aber gleichwohl einen einigermaßen laxen Umgang mit Dokumenten und Quellen erkennen, insbesondere mit Bilddokumenten, die in solchen Kontexten Verwendung finden, in denen es darum geht, sich ein Bild von der Geschichte zu machen.
Das Interesse an medialen Aufarbeitungen von Geschichte, das Interesse also an Infotainment zum Thema Geschichte, ist heute so groß wie nie zuvor; in sämtlichen TV-Kanälen blühen neue Formate auf, selbstverständlich zu den besten Sendeplätzen. Eine der neuen Medienerscheinungen, die aus diesem Diskurs nicht mehr wegzudenken scheint, ist das so genannte Reenactment, also das Nachstellen und Nachspielen von historischen Vorgängen, für die es kein zeitgenössisches Bildmaterial gibt. Und solange der Zuschauer klar zwischen nachgestellten Sequenzen und Originaldokumenten unterscheiden kann, ist dieses Verfahren vielleicht ästhetisch, aber weniger methodisch zu kritisieren. Manchmal werden die Reenactmentsequenzen ja auch als solche gekennzeichnet – wir sehen etwa Hannibal beim überqueren der Alpen, und unten links im Bild steht dann ein Schriftzug “Szenen nachgestellt”. Sensibler wird die Angelegenheit, wenn es um Rekonstruktion und Nachstellung von historischen Episoden aus dem Zeitalter moderner Medien geht – Reenactment-Spezialisten produzieren ihre Sequenzen in Schwarz-weiß, verändern die Bildlaufgeschwindigkeit und versehen das Bild mit Laufstreifen, und der Zuschauer kann nicht mehr erkennen, ob er ein originales Dokument sieht oder eine Spielszene.
Umgekehrt ist nicht selten zu beobachten, dass originale Bild- und Filmdokumente beispielsweise nachkoloriert und 3-D-animiert werden. Was als historische Quelle auf uns und unsere Zeit kommt, wird nicht im zeitgenössischen, überlieferten Zustand präsentiert, sondern unseren heutigen Sehgewohnheiten angepasst.
Der bemerkenswerte Effekt solcher Umgangsweisen mit Bildern ist eben der, dass wir – obwohl oder gerade weil unsere Aneignungsweisen von Wirklichkeit im 20sten und 21stigen Jahrhundert bilddominiert sind – einen ganz und gar unkritischen Umgang mit Bildern und Bildinhalten pflegen. Ihrer offensichtlichen Austauschbarkeit und Manipulierbarkeit zum Trotz nehmen wir Bilder allzu gern als Beweise und Zeugen für Inhalte. Gerade auch dort, wo es um historische Fakten geht.
Vor dem Hintergrund dieser – beileibe nicht neuen Erkenntnisse – könnte vor unserem inneren Auge nur allzu leicht ein archetypischer Film über den Kieler Matrosenaufstand von 1918 ablaufen: Wir sehen nachträglich mit Schritten und Werftgeräuschen vertonte Sequenzen in leicht zu schnell laufenden Filmbildern; dazwischen wird in Postkarten und Fotos hinein- und hinausgezoomt; die Protagonisten sind aus den Hintergründen ausgestanzt und treten räumlich aus den fotografierten Hintergründen hervor. Ein Sprecher mit bekannter Stimme liest Tagebucheinträge, und im Dämmerlicht einer Schreibtischlampe sehen wir einen namenlosen Schauspieler, der den Schreibenden grübelnd darstellt.
All dieser Verfahren bedient sich Kai Zimmer, der Kieler/Berliner Filmemacher und Künstler, nicht. Ein wesentliches Formelement seines Revolutions-Films besteht darin, die Materialien, aus denen er besteht, als solche auszustellen und ihre Ursprungsform zu bewahren. Natürlich benutzt Zimmer auch Quellen und Dokumente – seine Hauptquelle ist ein Glücksfund, wenn man so will: das Tagebuch des Schiffbauingenieurs Nicolaus Andersen, auf dessen Aufzeichnungen zwischen August 1917 und November 1918 der Filmessay basiert. Zu dieser Hauptquelle, die der Filmemacher selbst im monotonen, eigentümlich erzählunfreudigen Stil vorliest, zu dieser Hauptquelle also kommen Fotodokumente – allem Anschein nach Fotos aus Privatarchiven und Postkarten. Schließlich mischen sich Filmaufnahmen aus dem heutigen Kiel und dem Umland in die Montagen.
Nirgends wird in und mit diesem Materialbestand der Versuch unternommen einer authentischen Realitätsnachschöpfung unternommen; die Materialien – alte Fotos und Postkarten, neue Filmsequenzen und der bearbeitete Text des Schreibers Andersen – bleiben, was sie sind und formen sich zu einer Collage, deren Ergebnis dann nicht ein scheinbar lückenloses Panorama der Novembertage bilden, sondern ein höchst lückenhaftes, fragmentarisches, auf die persönliche Erlebnisperspektive eines Einzelnen heruntergebrochenes Puzzleteil eines historischen Prozesses.
Das wiederkehrend verwendete Stilmittel, viele der Postkarten und Fotos ins Gras zu legen, ist m.E. gerade so funktionalisiert: Die Fotos sind Fundstücke, ihres Herkunftskontextes entrückt, in eine neue Umgebung gefügt, wo sie auf ihren Gehalt untersucht werden müssen und keinesfalls für sich selbst sprechen. Was an neueren, rekonstruierten Materialien hinzutritt, ist erkennbar neu erzeugt, heterogen zum historischen Material und fügt sich nicht nahtlos ein, will nicht harmonisch passen, sondern transportiert den Bruch mit sich. Das Bild, das der Zuschauer sich aus dem ganzen fügt, ist so immer ein gefügtes, gebautes – eines, das seinen Interpreten immer mitdenkt.
Der Text, den Kai Zimmer vorträgt, ist durch die Bearbeitung des Filmemachers einigermaßen spröde geworden. Es wird nicht viel berichtet: das Wetter, die Temperatur, Besuche bei Familienmitgliedern, gelegentlich Meldungen von der Front, und immer wieder seine Kontakte zu P., seiner Verlobten, mit der er offenbar bereits seit zehn Jahren verlobt ist. Auffällig sind die Zahlen der Toten, die er geradezu minutiös auflistet, wenn etwa auf der Werft ein Arbeitsunfall passiert. Die Zahl der Toten und Verletzten wird dieser Andersen auch protokollieren, wenn er die Vorgänge des Matrosenaufstandes aufschreibt.
Es sind dies die Spitzen, die seine Aufmerksamkeit lenken und seinen Bericht skandieren; jedenfalls mehr als es die Vorgänge der Arbeiter und Gewerkschaftler. Zimmer sammelt solche Schlüsselbegriffe heraus und stellt sie zu Wortlisten zusammen, die das Prinzip der Collage wieder aufgreifen. Unweigerlich beginnen wir als Zuschauer, die Leerstellen in diesen Listen zu füllen. Kann es sein, dass sich hinter den Alltagsskizzen des Werftingenieurs ein Panorama des Revolutionsjahrs verbirgt? Fallen hier die sensiblen Begriffe, die es braucht, um das historische Tableau zu erstellen?
Da wird womöglich jeder seine eigene Antwort geben. Für den einen mag die erlebte Geschichte des Nicolaus Andersen einen schlüssigen Zugang zum Matrosenaufstand eröffnen, für den anderen stellen sich vielleicht mehr Fragen als Antworten. Dies aber, so scheint mir, ist die eigentliche Leistung von Kai Zimmers Film: Der Film beansprucht nicht, die eine, gültige, erschöpfende Quelle entdeckt zu haben und auszuwerten; er beansprucht nicht die absolute Deutungshoheit und Beweiskraft; er zeigt vielmehr auf eine ganz rohe und ungeschminkte Weise, was Geschichte ist: ein ungerichteter Verlauf, ein unabgeschlossener Prozess, eine kontingente Folge von Ereignissen, zu denen sich kaum ein Standpunkt findet, von dem aus sich ein Ganzes erkennen lässt.
Fotos und Filme, so habe ich anzudeuten versucht, werden zu oft dazu genutzt, Faktizität herzustellen. Zimmer geht in diesem Film den entgegengesetzen Weg: Bilder und Filme sind immer nur Bruchstücke eines größeren Ganzen, das immer wieder aufs Neue gedacht werden muss. (Dr. Eckhard Pabst, Kiel, 22.11.2012)
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