54. Nordische Filmtage Lübeck 2012

Finnische Legenden

“Das Weiße Rentier” (Erik Blomberg, FIN 1952)

Glaubt man den Samen, entstand die Welt aus einem weißen Rentier. Seine Knochen wurden das steinige Fundament, sein Fleisch das Land. Seine Adern und Sehnen wurden zu Flüssen, sein Fell zu Bergen, Wiesen und Wäldern. Sein Kopf wurde das Firmament, seine Augen zu Sternen. Sein Herz wurde aber in die Erde versenkt, wo es heute noch schlägt.
Auf einer samischen Legende basiert auch der Debütfilm des finnischen Dokumentarfilmers Erik Blomberg, dessen Drehbuch er zusammen mit seiner Frau und Hauptdarstellerin Mirjami Kuosmanen entwickelte. Das Findelkind Pirita verlor ihre Mutter auf der Flucht vor Wölfen und wird von Rentierzüchtern aufgezogen. Als junge Frau wählt Pirita den Rentierhirten Aslak zu ihrem Gemahl, weil der sie als einziger beim Schlittenrennen bezwingen kann. Doch das Glück der Jungvermählten ist kurz, Aslak muss oft mit der Herde fort und vernachlässigt zudem seine Frau. Pirita sucht einen Schamanen auf, um sich einen Liebestrank brauen zu lassen, doch der erkennt stattdessen in ihr eine Hexe. Tatsächlich verwandelt sich Pirita wieder und wieder in ein weißes Rentier, um Jäger zu locken und sie dann als Vampir auszusaugen. Bald beginnt eine Hexenjagd auf das weiße Rentier, die so enden muss, wie das Unglück begann. Aslak ist als einziger Pirita gewachsen und kann sie stellen. Der Mann bestraft die Frau für ihr sexuelles Verlangen, das er doch selbst angerichtet hat. Damit vergreift er sich letztendlich an der Natur selbst, der Schöpfung in der Form eines weißen Rentiers.
Mirjami Kuosmanen in “Das weiße Rentier” (Foto: NFL)
Die Legende um unerfüllte weibliche Sexualität, die sich in der Form des Urtieres animalische Bahn bricht, war 1953 im Wettbewerb in Cannes zu sehen und ist der einzige finnische Film, der jemals einen Golden Globe bekam. Legendär ist aber auch seine Hauptdarstellerin Mirjami Kuosmanen, eine Frau von klassischer Schönheit, wie geschaffen für die gleichzeitige Verkörperung von Unschuld und tödlichem Verlangen. Die erfolgreiche Sportlerin arbeitete seit 1937 als Schauspielerin und lieferte mit “Das weiße Renntier” ihre erste Drehbucharbeit ab. Regisseur und Kameramann Blomberg setzte die Geschichte stilistisch in einer Mischung aus Naturdokumentation und expressionistisch geprägtem Stummfilmhorror um. Der Verzicht auf ungelenke Tricktechnik zugunsten von geschicktem Schnitt oder Licht- und Schatten-Spiel lässt die Ästhetik des Films auch heute noch äußerst sehenswert erscheinen. Ein Glücksgriff für die Retrospektive der Nordischen Filmtage Lübeck 2012 und seine Zuschauer. Auch wenn Mirjami Kuosmanen wenige Jahre später jung verstarb, so hat sie sich mit “Das weiße Renntier” unwiderruflich in das Gedächtnis der Filmgeschichte geschrieben. (dakro)
“Das weiße Rentier / Valkoinen Peura”, Finnland 1952, 74 min., 35 mm, Regie, Kamera: Erik Blomberg, Drehbuch: Erik Blomberg, Mirjami Kuosmanen, Darsteller: Mirjami Kuosmanen, Kalervo Nissilä, Ã…ke Lindman, Trailer hier bei Youtube.
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