16. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide

Repressive Toleranz: Chinesische TV-Dokus auf der Augenweide

Seit einigen Jahren synchronisieren die Kuratoren des Filmfestes Augenweide die Wahl des alljährlichen Gastfestivals mit dem Länderschwerpunkt des Schleswig-Holstein-Musikfestivals. Keine einfache Aufgabe in diesem Jahr, denn China ist nach wie vor ein straff geführtes totalitäres Regime, auch wenn die chinesische Ökonomie mit dem Tempo eines führerlosen Schnellzuges ungebremst durch die Weltwirtschaft rast. Während sich aber Musik und musikalische Gäste leichter vom politischen Ballast ihres Heimatlandes befreien und präsentieren lassen, ist das mit dem Medium Film nicht so einfach. Hier wird meist doch eine konkrete Aussage getroffen, die nicht nur Filmlinguisten entschlüsseln können. Und da stellt sich im Fall eines Augenweide-Gastlandes China natürlich die Frage, ob man linientreues Staatsfernsehen präsentiert oder unabhängiges und – damit praktisch gleichbedeutend – oppositionelles Filmschaffen.
Es traf es sich daher gut, dass die Kieler Underground-Legende Karsten Weber als Moderator gleich durch drei Veranstaltungen führen konnte. Seit mittlerweile sechs Jahren präsentieren Weber und seine Mitstreiter der Filmgruppe Chaos mit „Blitzfilm“, dem größten deutschen Filmfestival in China, einem neugierigen und nimmersatten chinesischem Publikum Filme von Underground bis Mainstream. Dabei hat Weber sich natürlich Insiderkenntnisse der realen Situation der Filmschaffenden außerhalb der staatlich gelenkten Film- und Fernsehproduktion verschaffen können.
Mit einem dreiteiligen Programm wollten die Festivalmacher aber auch den verschiedene Positionen gerecht werden: Der Blick von außen, repräsentiert durch Karsten Weber und seine Erfahrungen mit Independent-Filmern und Funktionären in den letzten sechs Jahren „Blitzfilm“, der kritische Blick einer Independentfilmerin, die nach dem Dreh ihrer Dokumentation über den Widerstand eines Bauerndorfes gegen den Neubau einer Universitätsstadt auf dem Boden ihres Dorfes („University City Savages“) vorsichtshalber nach London emigriert ist, und die offizielle, chinesische Sicht der Dinge, manifestiert durch zwei Dokumentationen des chinesischen Staatsfernsehens. Leider blieben die Gäste bei allen Veranstaltungen aus: Die Filmemacherin musste befürchten, nach dem Verlassen des Vereinigten Königreiches bei der Rückreise nicht wieder ins Land gelassen zu werden. Und die offiziellen Vertreter schoben in letzter Minute Termine vor. Letztendlich ging man sich vielleicht lieber aus dem Weg.
Karsten Weber versuchte, die Lage in China auf einen Punkt zu bringen und sich eine umständliche Einführung zu schenken: „Das meiste, was über China berichtet wird, ist tatsächlich richtig.“ Man darf grundlegendes Verständnis über die politische Situation in China und das Verhältnis Chinas zu den westlichen Nationen sicher voraussetzen. Mit diesem Wissen ist es dann durchaus interessant, wie das chinesische Fernsehen die Lebenssituation im Land darstellt. Im Vielvölkerstaat China gibt es z.B. über 50 Minderheiten, deren kulturelle Eigenheiten durchaus respektiert werden. „Naxi People in Salt Well“ (China, 2009) portraitiert das Volk der Naxi (auch Nakhi), das seit Jahrhunderten in der Provinz Yunnan im Grenzgebiet zu Tibet am Fuße des Himalaya-Gebirges von der Salzgewinnung lebt. Noch heute schöpfen die Naxi-Frauen ohne technische Hilfe das Wasser der salzhaltigen Gebirgsquellen und verteilen es zum Verdunsten auf eigens errichtete Holzplateaus. Wind und Sonne lassen das Wasser verdunsten, zurück bleiben Salzkristalle, die allein von den Frauen in mühevoller Arbeit zusammengetragen und gereinigt werden. 700 Tonnen Salz werden so jedes Jahr gewonnen und von den Naxi-Männern zum nächsten Handelsort transportiert. Die Dokumentation der Taishan Radio and TV Station feiert diese scheinbar noch heile und funktionierende Welt in Hochglanzbildern und gesteht sogar den beiden vorwiegenden Religionen, dem Christentum und dem Buddhismus, friedensstiftende Funktion zu. Die Konflikte im nahen Tibet bleiben allerdings völlig ausgeklammert. Lediglich eine junge Naxi darf ihre persönlichen Zweifel an dieser ihr Leben bestimmenden Tradition äußern.
Vor bald sieben Jahren, am 13. November 2005, ereigneten sich in den Petrochemischen Werken Jilin (oder Yilin) eine Reihe von Explosionen, die 100 Tonnen von Benzol und Nitrobenzol in den Fluss Songhua und damit in den Amur einleiteten. Schnell waren 80 km Flusslauf verseucht und die öffentliche Trinkwasserversorgung musste umgehend eingestellt werden. „Two People – Seven Days“ (China 2006) fasst im Reportagestil die Ereignisse der folgenden Tage aus der Perspektive von zwei Protagonistinnen zusammen. Frau Wang, scheinbar eine Art offizielle Bürgervertreterin, kämpft für die Versorgung ihrer Nachbarschaft mit abgefülltem Wasser. Insbesondere behinderten und alten Menschen muss sie das Wasser selbst bringen, eine öffentlichen Dienst scheint es dafür nicht zu geben. Immer wieder stellt Frau Wang die Frage, warum sie und die Bevölkerung nicht umfassend von den Behörden über die Notlage informiert wurden. Die Auswirkungen der mangelnden Kommunikationskompetenz der Provinzregierung zeigt der Film in krassen Bilder: Die Panik und Desorientierung nehmen sprunghaft zu, die Wasserverteilung auf öffentlichen Plätzen gleitet ins Chaos ab. Inzwischen ist der Fluss auf einer Länge von 150 km verpestet, die Katastrophe hat Russland erreicht.
Frau Ma kann sich noch erinnern, dass früher im Fluss gebadet wurde. Heute kann sich das niemand mehr vorstellen. Frau Ma ist als Umweltbeauftragte oder eine Art Aktivistin in einem Impromptu-Krisenstab berufen, um die Auswirkungen der Katastrophe zu beurteilen. Sie kämpft dafür, dass die regionalen Provinzregierungen endlich bei der Einhaltung gemeinsamer Umweltrichtlinien zusammenarbeiten. Nach sieben Tagen scheint die Katastrophe unter Kontrolle. Tonnenweise wird Aktivkohle in den Fluss gekippt, um das giftige Benzol zu neutralisieren. Kleinlaut gibt auch endlich die Zentralregierung einen Kommentar ab und räumt ein, dass dies eine der größten ökologische Katastrophen in der Menschheitsgeschichte sei.
Man darf durchaus erstaunt sein, wie offen über das Ausmaß und die Auswirkungen der Katastrophe im chinesischen Fernsehen berichtet wurde. Die Reportage adressiert eine Reihe von Missständen, benennt aber nicht explizit die Schuldigen. Weder werden die Verantwortlichen des Chemiekonzerns befragt, noch werden Namen von Provinzpolitikern genannt. Zwischen den Zeilen darf man aber durchaus lesen, dass insbesondere die Provinzregierung versagt hat und es nur dem beherzten Eingreifen couragierter Bürger und der Armee zu verdanken ist, dass die totale Katastrophe letztendlich verhindert werden konnte.
Beide Filme machen klar, dass das politische Leben in China ein ständiges Lavieren ist. Zwar führt die Partei den Vielvölkerstaat mit eiserner Hand, sie hat aber auch Respekt und teilweise Angst vor dem gerechten Zorn der Bevölkerung, die oft eine mutige und teilweise ruppige Art des Widerstandes an den Tag legt, so die Beobachtung von Moderator Karsten Weber. Von diesem Mut Einzelner war in der Reportage durchaus etwas zu sehen. Letztlich setzt der Film gerade diesen engagierten Bürgern ein Denkmal. Bis zu einer wirklich freien und unzensierten Berichterstattung im chinesischen Fernsehen ist es aber sicher noch ein unabsehbar langer Weg. (dakro)
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