62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Schuld und Vergebung

„Gnade“ (Matthias Glasner, D 2012)

Möglicherweise ist „Gnade“ der deutsche Wettbewerbsbeitrag, über den während der Berlinale am meisten gesprochen, genauer, gestritten wurde. Während „Barbara“ von Christian Petzold einhellig gefeiert und als Bärenkandidat gehandelt wurde und „Was bleibt“ von Hans-Christian Schmid tendenziell wohlwollend aufgenommen wurde, zeigten sich die Kritiker bei Glasners Untersuchung des gesellschaftlichen Umganges mit Schuld eher unwirsch. Allzu schwelgerisch seien der Regisseur Glasner und sein Kameramann Jakub Bejnarowicz mit den verführerischen Schauwerten der Eis- und Küstenlandschaft in Norwegen umgegangen, zu eng und konstruiert sei das Drehbuch, zu einfach die Auflösung der vielen Konflikte, die der Film installiert. An diesen Vorbehalten mag etwas dran sein, aber sie sollten nicht den Blick verstellen auf eine spannende, vielleicht sogar kontroverse Frage, die Glasner in seinem Film aufwirft: Ist Gnade angesichts einer schweren Schuld möglich und unter Umständen gar die sinnvollere Alternative?
Gleich am Anfang ein Fingerzeig: Nördlich des Polarkreises herrscht wochenlang durchgehende Dunkelheit, die Polarnacht, bevor während der weißen Nächte wiederum die Sonne ebenfalls lange nie ganz hintern Horizont verschwindet. Extreme Bedingungen, denen sich der Hamburger Ingenieur Niels (Jürgen Vogel) mit seiner Frau Maria (Birgit Minichmayer) und Sohn Markus aussetzen werden. Aber diese Familie braucht eine zweite Chance, auch diesen Hinweis bekommen wir gleich zu Beginn des Films. Niels nimmt eine Stelle in einer Offshore-Gasgewinnungsanlage in Hammerfest im Norden Norwegens an, Maria ist als Stationsschwester im örtlichen Hospiz bald unersetzlich, Markus geht zur Schule. Das Leben in der Fremde mit ihren lebensfeindlichen Bedingungen führt aber nicht dazu, dass die Familie enger zusammenrückt, im Gegenteil. Niels hält Frau und Sohn herrisch auf Distanz wie eigentlich auch seine Kollegen, mit denen er nur Englisch sprechen will. Ganz anders Maria und Markus, die sich zu integrieren versuchen: Beide sprechen Norwegisch, Maria singt im Chor der Gemeinde, Markus sucht Anschluss an eine Schul-Clique. Für alle Drei sieht das Drehbuch von Kim Fupz Aakeson (Drehbuch zum Berlinale Wettbewerbsbeitrag „Ein Mann von Welt“, NOR 2010) den Sündenfall vor: Niels hält sich eine Kollegin als Geliebte, Markus spuckt als Initiationsritus einem unbeliebten Mitschüler in den Ranzen. Doch die Erschütterung ihrer Existenz erfährt die Familie durch einen Unfall mit Todesfolge. Nach einer langen Spätschicht, die sie für eine Kollegin übernommen hat, fährt Maria auf dem Heimweg etwas oder jemanden an. In Panik fährt sie nach Hause, Niels sucht in der Nacht noch vergeblich nach der Ursache. Am nächsten Tag erfahren die beiden aus den Nachrichten vom Erfrierungstod eines 16-jährigen Schulmädchens nach einer Fahrerflucht.
Erbarmen in erbarmungsloser Natur: „Gnade“ (Foto: Berlinale)
Matthias Glasner fordert vom Zuschauer wie auch in seinem letzten Wettbewerbsbeitrag, dem Vergewaltiger-Drama „Der freie Wille“ (D 2006) ein gerüttelt Maß an Geduld und Leidensfähigkeit. Die Nachdrücklichkeit seines Melodrams will der Regisseur scheinbar auch aus einer erzählerischen Konsequenz entwickeln: Der steigende Druck, unter dem sich Maria und Niels nach der Fahrerflucht befinden, wird in aller Ruhe aufgebaut. Marias Entscheidung, mit der Schuld leben zu wollen, weil sie kein schlechter Mensch sei, ist nachvollziehbar, aber natürlich auch dramaturgische Notwendigkeit. Während Glasner das Mit-der-Schuld-Leben-Lernen seiner Protagonisten durch die permanente Gefahr der Entdeckung in Spannung hält, zwingt der Film den Zuschauer tatsächlich, seine eigene, persönliche Entscheidung für diese existenzielle Situation zu entwickeln. Gleichzeitig bietet Glasner eine These an, die dem konventionellen Verständnis von Schuld und Sühne zuwider läuft. Bei aller religiösen Konnotation, die dem Begriff Gnade anhaftet, geht es Glasner mit Sicherheit nur um die Prinzipien einer archaischen Gemeinschaft inmitten einer zwar als erhaben ins Bild gesetzten, aber erbarmungslosen Natur: Die Gemeinschaft kann nur überleben, wenn sie Gnade gewähren kann, und der Einzelne kann nur überleben, wenn er sich dieser Gnade ausliefert. (dakro)
„Gnade“, D 2012, 131 Min., Regie: Matthias Glasner, Buch: Kim Fupz Aakeson, Kamera: Jakub Bejnarowicz, Schnitt: Heike Gnida, Darsteller: Birgit Minichmayer, Jürgen Vogel, Henry Stange, Ane Dahl Torp, Maria Bock, Stig Henrik Hoff, Iren Reppen u.a. Gefördert u.a. von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.
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