53. Nordische Filmtage Lübeck 2011
Die wiedergewonnene verlorene Zeit
„Die verlorene Zeit“ (Anna Justice, D 2010)
Man mag sie ja eigentlich nicht mehr schauen, die groß angelegten TV-Historiendramen über eine deutsche (und hier auch polnische) Vergangenheit, die immer noch nicht aufgearbeitet scheint – und dafür wohl auch noch einige Zeit braucht. Umso angenehmer, wenn eine Geschichte, die aus der Opferperspektive im KZ beginnt, mal etwas weniger pathetisch erzählt wird. Obwohl die (wahre) Liebesgeschichte der deutschen Jüdin Hannah Levine, geb. Silberstein, und des polnischen Widerstandskämpfers Tomasz Limanowski, die 1944 aus einem deutschen KZ fliehen, sich dann aber erst nach 32 Jahren wiedersehen, ein Pathos in sich hat, das wir zuletzt bei Shakespeares „Romeo und Julia“ erlebten.
Autorin Pamela Katz, die für das Drehbuch nach mehreren wahren Begebenheiten jahrelang recherchierte, und Regisseurin Anna Justice erzählen die kriegswirrenbedingt zahlreiche Haken schlagende Geschichte des Paars, das sich im KZ kennen und lieben lernte, einfühlsam gegenüber ihren Figuren wie auch gegenüber dem „heißen Eisen“ deutsch-polnischer Geschichte, das sie hier anfassen. Denn zwar gelingt Tomasz, verkleidet als SS-Offizier, zusammen mit Hannah die Flucht aus der Nazi-Hölle auf den elterlichen Bauernhof nahe Warschau, doch treffen die Flüchtlinge dort auf eine weitere Mauer, die ihrer Liebe entgegensteht: Tomasz’ Mutter (beeindruckend in verhärmter Strenge: Susanne Lothar) hat nicht nur aus Angst vor Repressalien der deutschen Besatzer, sondern auch als strenggläubige Katholikin Vorbehalte, die jüdische Geliebte ihres Sohnes aufzunehmen und zu verstecken. Antisemitismus seitens polnischer Katholiken, ein lange ausgeblendetes Thema in der Geschichtsaufarbeitung beider Länder. Ebenso die polnische Heimatarmee, der nicht kommunistische und daher nachwirkend bis heute lange totgeschwiegene Widerstand gegen die nazi-deutschen Besatzer. Diesem schließt sich Tomasz nach seiner Flucht an und lässt Hannah bei seiner Schwägerin zurück. Leidend unter den untergründigen bis unverhohlenen Anfeindungen der „Schwiegermutter“ macht sich Hannah schließlich im Winter 1944 auf den beschwerlichen Fußmarsch nach Berlin. Und als Tomasz nach Kriegsende aus dem Dienst in der polnischen Heimatarmee zurückkehrt, lügt seine Mutter, Hannah sei gestorben.
Auf der Flucht zu einander: Tomasz (Mateusz Damiecki) und Hannah (Alice Dwyer) (Foto: NFL)
Erst 32 Jahre später, Hannah ist in die USA ausgewandert und hat dort einen jüdischen Arzt geheiratet, entdeckt sie Tomasz zufällig in einem Fernseh-Interview mit ehemaligen Widerstandskämpfern. Tomasz, inzwischen Lehrer und Vater einer Tochter, musste sein Engagement in der polnischen Heimatarmee lange verheimlichen, denn im Polen vor der Solidarnosc-Bewegung war dieser Widerstand, weil kein kommunistischer, tabu. Verwirrt von der „Wiederentdeckung“ ihrer ersten und wohl einzigen großen Liebe, nimmt Hannah Tomasz’ Spur auf, ruft ihn, der erst nicht glauben kann, dass sie noch lebt – so weit reichen die Schatten der Vergangenheit -, an und trifft ihn schließlich im Polen des Jahres 1976.
Die Szene am Ende des Films, wo sich die über Jahrzehnte getrennten Liebenden wiederbegegnen und weit von einander entfernt sich gegenüberstehen, gehört zu den beeindruckendsten des Films. Lange habe man über dieses Ende, das ein neuer Anfang sein könnte, diskutiert, berichtet der Redakteur des koproduzierenden NDR, Bernd Michael Finke. Für den Zuschauer wird daraus die Botschaft des Films deutlich: Die verlorene Zeit ist – um mit Marcel Proust zu sprechen – auch eine wiedergefundene.
Denn um das Wiederfinden im Moment des Verlusts (und umgekehrt) geht es auch filmbildnerisch immer wieder. Beraten von keinem Geringeren als Kamera-Ikone Michael Ballhaus zeigt Kameramann Sebastian Edschmid die Liebenden im KZ als ständig Getriebene – von ihrer Leidenschaft füreinander wie von der beständigen Lebensgefahr. Die Kamera zoomt in die verzückten wie die verschreckten Gesichter, macht in schwirren Schwenks die Zerrissenheit zwischen lebendiger Liebe und Todesdrohung, zwischen sich Finden und Verlieren deutlich. Auch die Farb- und Lichtatmosphären sind konzis komponiert, harte Kontraste im KZ, das chamois-artig eingefärbte Licht von Hannahs (Schein-) Heimat im New Yorker Familienidyll, in das nun Tomasz’ Erinnerungsbild immer wieder als Wiedergänger dringt.
Entstanden ist ein Film, der aus dem Kanon gegenwärtig re-enacteter Vergangenheitsbewältigungen vor dem Hintergrund wiedereröffneter Archive hervorsticht, indem er selbst die geschichtlichen Lautheiten und Explosiva leise erzählt. Eine verlorene Zeit, die so eigentümlich innig wiedergewonnen wird wie eine zwar vergangene, aber darin umso unvergänglichere Liebesgeschichte. (jm)
„Die verlorene Zeit“, Deutschland 2010, 106 Min., Regie: Anna Justice, Buch: Pamela Katz, Kamera: Sebastian Edschmid, Schnitt: Uta Schmidt, Darsteller: Alice Dwyer (Hannah Silberstein), Dagmar Manzel (Hannah Levine, geb. Silberstein), Shantel Van Santen (Rebecca Levine), David Rasche (Daniel Levine), Mateusz Damiecki (Tomasz, jung), Lech Mackiewicz (Tomasz), Susanne Lothar (Stefania Limanowska), Adrian Topol (Czeslaw), Joanna Kulig (Magdalena Limonowska), Florian Lukas (Hans von Eidem)