61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Einmal ein Fürst sein

„Jutro bedzie lepiej – Tomorrow will be better“ (Dorota Kedzierzawska, Polen/Japan 2010)

Irgendwo jenseits der Ostgrenze Polens: ein schäbiger Bahnhof, vergilbte Kacheln, abblätternde Farbe, schmuddelige Ecken. Passanten eilen hin und her. Man sieht nicht viel mehr als ihre Beine, denn die Kamera verfolgt das Geschehen aus Dreikäsehoch-Perspektive. Am schnellsten sausen drei Kinder durch die Gänge. Bis sie ein Versteck unter einer Bahnhofsbank finden, wo sie eine kurze Pause einlegen, um sich etwas richtig Gutes zu gönnen: Sie rauchen ein paar gefundene Kippen auf. Sogar der Kleinste raucht schon wie ein Schlot – die Kippe passt perfekt in seine Milchzahnlücken.
Lyapa ist 11, Vasya 10 und Petya 6 Jahre alt. Petya und Vasya sind Brüder, aber wo ihre sonstige Familie stecken mag, erfährt man nicht. Die Drei sind richtige Überlebenskünstler, die schon wissen, wie man eine Marktfrau bezirzt, um an ein Brot zu kommen. Und wenn man nichts anderes zu trinken findet, tut es auch Wodka – bloß nicht wählerisch sein. Manche Erwachsene wundern sich, fragen nach den Eltern – und haben dann wieder genug mit ihren eigenen Sorgen zu tun.
Unzertrennliches Trio auf dem Weg in ein besseres Leben (Foto: Berlinale)
Die drei Jungen haben ein gemeinsames Ziel: Über die Grenze nach Polen zu fliehen, in ein besseres Leben. Aber auch diese Schicksalgemeinschaft hat ihre Grenzen. Lyapa, der Älteste, versucht Vasya immer wieder zu überreden, Petya abzuhängen. Der Kleine macht viel zu viel Unsinn und hält sie manchmal bloß auf. Sollte er nicht besser bei dem zwielichtigen Onkel in der Einöde bleiben, wo sie zwischendurch übernachten dürfen? Aber schließlich entscheidet sich Vasya immer wieder für seinen kleinen Bruder. Das Zusammensein ist alles, was sie haben.
Wenn sie es erstmal nach Polen geschafft haben, wird das Leben schon besser werden, und irgendwann werden sie in ihre Heimat zurückkehren, dann aber als Fürsten! Um die Flucht durch die Sperranlagen zu schaffen, müssen die Drei trainieren wie beim Militär. Lyapa kennt sich da aus und lässt nichts durchgehen. Die Flucht ist auch sonst gut vorbereitet: Um sich auf dem Weg durch den mit Stacheldraht durchspannten Grenzstreifen nicht zu verlieren, nutzen sie Seile als Verbindung. Und dann müssen sie noch den Fluss durchschwimmen …
Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, von der die Regisseurin im Radio gehört hatte. Dort wurde der Fall russischer Straßenkinder geschildert, denen die Flucht nach Polen gelungen war. Außerdem wurde den Zuhörern die Frage gestellt, welcher Meinung sie selbst seien: Sollten die Kinder in Polen aufgenommen werden – oder nicht? Die Meinungen hierzu gingen weit auseinander. Und Dorota Kedzierzawska beschloss, diesen Film zu machen – als Mittel gegen die Unentschlossenheit und Angst derer, die helfen könnten.
Nach den jungen Darstellern musste sie lange suchen: Schließlich fand sie die Brüder Oleg und Evgeny Ryba in der Ukraine. Akhmed Sardalov, der Lyapa, den Ältesten, spielt, war selbst ein Flüchtling aus Tschetschien und ist bereits wieder dorthin zurückgeschickt worden; die Regisseurin weiß nichts über seinen aktuellen Verbleib. Doch der Zuschauer ahnt nichts von dieser Nähe von Realität und Fiktion – vielleicht ist das gut so, denn der Film hat eine Empfehlung für Menschen ab 10 Jahren. Wie viele Härten und Grausamkeiten den jungen Zuschauern der Sektion „Generation“ zugemutet werden können, ist auf der 61. Berlinale ein wichtiges und kontrovers diskutiertes Thema: Die Beiträge aus „Generation“ thematisieren oft genug Schlimmes, von Selbstmord über Kinderarbeit bis zum Missbrauch durch Erwachsene.
Desto beeindruckender ist es, dass die erfahrene und preisgekrönte Regisseurin, die ihre Ausbildung in Lodz und Moskau erhielt, ihre Geschichte mit den wunderbaren Bildern des Kameramannes (und Produzenten) Artur Reinhard als ein spannendes Abenteuer zu erzählen versteht. Der Film ist kein Sozialdrama, sondern eine mitreißende Entdeckungsreise, und Kinderlachen erhellt immer wieder die Hilf- und Ausweglosigkeit. Bei der Premierenvorführung auf der Berlinale fragt ein Mädchen anschließend, warum die Jungen eigentlich hatten fliehen wollen – tatsächlich sieht die ostpolnische Ortschaft, in der die Drei schließlich ankommen, nicht unbedingt wie das gelobte Land aus. Kedzierzawskas Film verharmlost nicht und verkitscht nichts, nicht einmal, als Petya dem polnischen Polizeiwachtmeister das Liebste anbietet, was er hat: seinen Teddybären. Das Happy End bleibt leider aus, und Lyapa, Vasya und Petya werden wieder zurück hinter die Grenze gebracht – aber immerhin sind sie zusammen. Die zukünftigen Fürsten.
„Tomorrow will be better“ erhielt bei der 61. Berlinale sowohl den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Spielfilm als auch den Friedensfilmpreis der Heinrich-Böll-Stiftung – höchst verdient. (gls)
„Jutro bedzie lepiej / Tomorrow will be better“, Polen, Japan, 2010, 118 Min., 35 mm, 1:1,78, Regie: Dorota Kedzierzawska, Darsteller: Oleg Ryba, Evgeny Ryba, Akhmed Sardalov, Stanislaw Soyka
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