61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011:

Als dem Wettbewerb die Geschichten auszugehen drohten

Nicht zum ersten Mal dachten viele akkreditierte Besucher schon Tage vor Ende des Festivals, vielleicht wäre es ratsam, sich nicht so oft die Filme des Wettbewerbs, sondern häufiger Beiträge des Panoramas, Forums oder der anderen Sektionen des Festivals anzuschauen. Eine wohlfeile Binsenweisheit, die bei „lang gedienten“ Berlinale-Fans gerne periodisch fast alle Jahre wieder auftritt, deren demutsvolle oder optimistische Nichtbeachtung heuer aber ein beträchtliches Maß an Kinoschnarchzeit nach sich zog. Nicht dass es nicht auch im Wettbewerb einige sehenswerte Filme gab. Doch die Chance, mit läppischer Dürftigkeit und gähnender Inhaltsleere behelligt zu werden, war dieses Jahr besonders groß.
Herausragend, auch bei einem im Gänze besseren Wettbewerbsprogramm, bliebe der iranische Film „Nader and Simin, a seperation“ von Asghar Farhadi. Hier wird eine packende Alltagsgeschichte erzählt, die viel über die iranische Gesellschaft und ihre sozialen sowie insbesondere religiösen Umstände aussagt. Schnörkellos mit glaubwürdigen Darstellern wird die Geschichte einer Ehescheidung in der persischen Mittelschicht vorangetrieben. Die berufstätige Ehefrau will nicht mehr den an Alzheimer erkrankten Schwiegervater pflegen, will ihren Mann mit dem Wunsch, ins Ausland zu ziehen, zu einer Entscheidung zwingen. Am Anfang des Films steht so die Scheidungsverhandlung vor dem Familiengericht, die Eheleute schenken sich nichts, bleiben aber bei aller Konsequenz fair. Zwischen ihnen steht die 11-jährige Tochter, die doch beim Vater bleiben möchte, während ihre Mutter aus dem gemeinsamen Heim auszieht. Zum Abschied vermittelt die Frau ihrem Ex-Mann noch eine Pflegerin für seinen Vater. Diese kommt aus der religiösen, eher muslimisch fundamentalistischen Unterschicht. Von nun an nimmt das Schicksal mit einer wuchtigen Konsequenz seinen Lauf, an dessen Ende zwei zerstörte Familien stehen sollen und dessen Opfer (wie fast immer in diesen Fällen) besonders die Kinder sind. Alles in dem Film ist in den Dienst der Geschichte gestellt, ob Kamera, dramaturgische Mittel oder das realistische Spiel der Darsteller. Nichts lenkt ab vom Eigentlichen. So gewinnt der Film über weite Strecken eine geradezu dokumentarische Qualität. Und die Geschichte trägt von der ersten bis zur letzten Minute. Wagemutig erhielt der Film von einer konsequenten Jury neben dem Golden Bären für den besten Film auch die beiden Silbernen für die schauspielerischen Leistungen, des weiblichen sowie männlichen Ensembles.
Sareh Bayat in „Nader And Simin, A Seperation“ (Foto: Berlinale)
24 Filme liefen im Wettbewerb, davon konnten 16, innerhalb der Konkurrenz, mit Bären bepreist werden, sollten die momentane internationale Situation für A-Festival-würdige Filme (was auch immer man darunter verstehen mag) repräsentieren oder einen Ausweis für Überblick, Kompetenz und Programmgestaltungswille der Auswahljury liefern, je nach Betrachtungsweise. Auffällig war, dass im Wettbewerb als erstrangiger Visitenkarte der Berlinale erstaunlich viele Filme kaum etwas oder nur sehr wenig zu erzählen hatten. Es fehlten häufig die Geschichten, die den Zuschauer emotional oder intellektuell (am besten beides) packen konnten. Statt dessen verdröselten die Filme lieber ihre Zeit mit abstrusen Nichtigkeiten, delektierten sich an Sinnlosem oder erfreuten sich an Selbstbespiegelungen. Gerne wird dann, wenn’s an Inhalt fehlt, die Form bemüht und von Kunst gesprochen.
Der Film „The Future“ der Amerikanerin Miranda July ist so ein Beispiel. Eine hanebüchene Ausgangssituation wird Anlass für eine Kette von Unwichtigkeiten. Es wird viel geredet, aber nichts erzählt. Bestenfalls reiht sich ein komischer Unsinn an den nächsten, ansonsten pure Langeweile zum aus dem Kino Laufen. Ein südkalifornisches Wohlstandspärchen Ende 30 beschließt, eine nieren- und sonstwie kranke Katze in Hospiz-Adoption zu nehmen, bekommt aber einen Monat vor Antritt dieser Ehrenaufgabe, die beide tagtäglich rund um die Uhr in Anspruch nehmen soll, mitgeteilt, dass das Tier bei guter, hingabevoller Pflege durchaus anstatt der in Aussicht genommen sechs Monate auch noch fünf Jahre leben könnte. Bei beiden „Pflegern“ bricht Torschlusspanik aus. Man beschließt, die verbleibenden 30 Tage vor Hospiz-Antritt noch mit sinnvollen, selbstverwirklichenden Tätigkeiten zu nutzen. Sophie (Frau July als ihre eigene Hauptdarstellerin des in Buch und Regie von ihr zu verantwortenden Films) bemüht sich, eigenartige, um nicht zu sagen dämliche, Ausdrucktänze für YouTube mit Web-Kamera aufzuzeichnen, und beginnt eine merkwürdige Bekanntschaft zu einem gesetzten, suburbanen, älteren Mittelständler, einem Schilderproduzenten. Ihr Partner Jason (Hamish Linklater) versucht vergeblich, als einziger Vertreter eines kaum existenten Vereins, Baumsetzlinge gegen die Erderwärmung an den Mann respektive Frau zu bringen, und trifft dabei auf einen Rentner und Sammler, der in seiner rührigen Beredsamkeit wenigstens noch originell und authentisch wirkt. Das ganze hört sich bei weitem lustiger an, als es ist, und wird auch dadurch nicht besser, dass Miranda July der kranken, an einer Pfote verbunden Katze eine verjaulte Pseudokatzenstimme als Erzählerin leiht.
Miranda July in „The Future“ (Foto: Berlinale)
Ein weiteres Beispiel für reine Langeweile lieferte der koreanische Film „Comes Rain, Comes Shine“ von Lee Yoon-Ki. In ausdauernder Langsamkeit wird der Trennungstag eines jungen Pärchens dahinzelebriert. Eigentlich passiert fast nichts. Draußen regnet es, der Mann packt das Geschirr für seine bald Verflossene Stück für Stück sorgfältig zusammen, die Frau versucht vergeblich, die offene Terrassentür, durch die es hereinregnet, zu schließen u.s.w. Ein halb gequälter, bedauernder Dialog zwischen beiden täuscht Einfühlung vor, ödet sich aber nur durch die nicht vorhandene Handlung. Elend lange Kameraeinstellungen fügen auch nichts Nennenswertes hinzu. Eine Geduldsprüfung am drittletzten Festivaltag. Sich hier mit Ästhetik-Argumenten aus der Affäre ziehen zu wollen, verfängt nicht, wäre reine Schutzbehauptung. Da hilft kein Wollen, der Film ist banal. Kunst ist etwas anderes. Die Berlinale wagte so zuweilen viel für den Wettbewerb, für manchen Geschmack zu viel, weil auf Kosten der Zuschauer. Geklaute Lebenszeit!
Beachtlich aus der Affäre ziehen konnten sich die deutschen Wettbewerbsbeiträge. Wim Wenders wusste, ein politik-prominent besetztes, mit 3-D-Brillen veredeltes Premierenpublikum (Kanzlerin Merkel, Bundespräsident Wulf u.a.) mit dem teilweise sehr gelungen „Tanzfilm“ „Pina“ für sich einzunehmen. Werner Herzog konnte mit der räumlichen Darstellung der prähistorischen Höhlenmalerei in Frankreich in seinen Film „Cave of Forgotten Dreams“ (ebenfalls in 3-D) auch interessieren. Immerhin! – Beide Filme liefen wie anderes Unterhaltsames bezeichnender Weise außer Konkurrenz, wie z.B. als weiterer deutscher Beitrag die Deutschtürken-Komödie „Almanya – Willkommen in Deutschland“ von Jasemin Sanderelli. Eine Gastarbeitersaga, von ihren Anfangzeiten im Wirtschaftswunderland bis in die heutige integrations-gestresste Republik, der es bisweilen an Einheitlichkeit in Erzählung und Substanz fehlt, die aber besonders mit dem hervorragend eingearbeiteten Bild-, Ton- und besonders Musikmaterial aus den 50er Jahren zu amüsieren weiß.
Ulrich Köhlers „Schlafkrankeit“, eine postkoloniale Geschichte von Identitätsschwund und -aufgabe im heutigen Kamerun, ist wenigstens nicht langweilig, wenngleich nicht jeder dies typische Seelendrama der so genannten „Berliner Schule“ zu goutieren vermag. Immerhin verlässt der Autorenfilmer mit seiner Geschichte die dröge Miefigkeit der deutschen Provinz aus seinen zwei ersten Filmen, um sich allerdings sogleich in der immer gleichen Isolation des afrikanischen Halbdschungels wiederzufinden. Wer solche Filme mag, wird begeistert sein, die anderen werden zumindest Respekt bekunden, wegen der inhaltlichen Konsequenz von Selbstreflexion im Film, was die Figuren und auch ihren Autor betrifft. Dennoch scheint mir der Vergleich mit Joseph Conrads „Heart of Darkness“, der bisweilen in den Kritiken zu lesen war, nicht nur zu hoch gegriffen, sondern fast blasphemisch.
Tadellos, wenn auch als Spielfilmilm zu lang, erzählt Andres Veiel über weite Strecken ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte. Die Biografien von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper im Film „Wer wenn nicht wir“ überzeugen vor allem deshalb, weil es endlich einmal gelingt, die im deutschen Kino bei diesem Thema und seinem Personal vorherrschenden Rollenklischees zu verlassen und einer differenzierteren Ausgestaltung Raum zu geben. Selbst der in diesem Film letztlich nur als größerer supporting act vorkommende Andreas Bader gewinnt in seinem angeberischen Großsprechertum an Glaubwürdigkeit, weil es in einer realeren Zusammenhang gestellt wird. Nach seinen Dokumentarfilmen weiß Veiel, mit seinem ersten Spielfilm wieder Facetten unserer jüngsten Geschichte für ein besseres Verständnis zu öffnen, indem er versucht, den handelnden Personen gerecht zu werden, anstatt reißerisches Terroristenkino a la Eichinger („Der Baader-Meinhof-Komplex“) abzuliefern. Äußerst überzeugend gelingen auch Auswahl und Einbau des Dokumentarfilmmaterials. Was bleibt nach der Szene, in der ein US-Bomberpilot seinen Einsatz im Napalm-Bombardement live und begeistert aus seiner Pilotenkapsel feiert, noch mehr über den Vietnamkrieg zu sagen?
Zum Schluss erwähnenswert sind außer „Margin Call“, J. C. Chambers Film im Wettbewerb, der spannend, oft nur mit talking heads, die Vorgeschichte zur letzten Weltfinanzkrise zu erzählen weiß und in den ersten Tagen als preisverdächtig galt, sowie der von mir leider verpasste „The Turin Horse“ des Ungarn Bèla Tarr, die Erinnerungen an ein paar andere Filme aus dem Wettbewerb. Sie waren sehenswert, liefen aber leider außer Konkurrenz.
Da war zum einen der sehr unterhaltsame Eröffnungsfilm „True Grit“ der Coen-Brüder, ein gut gemachter Western mit Jeff Bridges, der als Remake seinen Fokus anders als der ursprüngliche John-Wayne-Film auf das junge Mädchen neben dem alternden US-Marshall legte und mit der 14-jährigen Hailee Steinfeld eine überzeugende Darstellerin für diese Rolle fand. Zum anderen ist „Les Femmes Du 6ème Étage“ von Philippe Le Guay zu nennen.
Fabrice Luchini und andere in „Les Femmes Du 6ème Étage“ (Foto: Berlinale)
Eine französische Komödie über eine Gruppe von spanischen „Gastarbeiterinnen“ im Paris der 50er Jahre und einen großbürgerlichen Patron, der in der Teilhabe an ihrer Lebensfreude ein neues lebenswertes Dasein entdeckt. Mit welcher Leichtigkeit, nonchalantem Humor und witzigem Charme hier ein Hohelied auf Toleranz und interkulturelles Miteinander gesungen wird, entschädigt für etliche Enttäuschungen und verlorene Kinostunden. (Helmut Schulzeck)
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