61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Verrückt durch Afrika

“Schlafkrankheit” (Ulrich Köhler, Deutschland, Frankreich, Niederlande 2011)

Zwei Jahre in einer fremden Umgebung verändern ein Leben. Das muss Vera ihrem Ehemann Ebbo ins Gedächtnis rufen, der sich ärgert, dass die Tochter nach zwei Jahren im Internat in Wetzlar fremdelt. Der sich da ärgert ist Arzt, Entwicklungshelfer und seit vielen Jahren in Afrika. Die Familie ist erstmals wieder vereint, die Tochter zu Besuch in Kamerun, dem aktuellen Aufenthaltsort. Sie wird mit der Mutter zurückkehren nach Deutschland. Ebbo soll nachkommen, aber er hat sich verändert. Soviel sei verraten: Er wird bleiben. Und wie.
Zwei Figuren gibt es, die im Mittelpunkt stehen. Der besagte Ebbo Velten und der Pariser Arzt Alex Nzila. In der ersten Hälfte geht es um Ebbos bevorstehende Abreise (die nie stattfindet), in der zweiten Hälfte darum, dass Alex nach Kamerun reist, um im Auftrag der WHO Ebbos aktuelles Projekt unter die Lupe zu nehmen. Auch dazu wird es nicht wirklich kommen.
In “Schlafkrankheit” widmet sich Ulrich Köhler einem großen Thema: der Wirklichkeit. Allerdings nicht, indem er sie banal abbildet, sondern vielmehr, indem er sie in Frage stellt. Eine echte Instanz gibt es nämlich nicht in “Schlafkrankheit”, weder irgendeine Figur noch die Kamera. Alles ist wacklig: Identitäten, Gewissheiten, sogar die Zeit. In einer folgerichtig erscheinenden Oberfläche lässt Köhler größere und kleinere Brüche und Spalten aufklaffen. Wer ist überhaupt dieser Ebbo? Der liebevolle, sozial engagierte Familienvater? Wie passt es dann, dass er Bedienstete für kleinere Nachlässigkeiten anherrscht? Dass er einer Krankenstation die Budgeterhöhung verweigert, um selbst ein quasi nutzloses Malariaprojekt mehr laufen zu lassen als zu verwalten? Lange Zeit in der zweiten Hälfte des Films bleibt auch im Unklaren, dass drei Jahre vergangen sind und Ebbo eine neue – afrikanische – Frau hat. Zunächst scheint die Figur konstant.
In der eigenen Fremde: Pierre Bokma als Ebbo in “Schlafkrankheit” (Foto: Berlinale)
Auch der Arzt Alex, dessen Wurzeln in den Kongo reichen, der aber Franzose ist, wähnt sich seiner selbst sicherer, als er ist. Als er sich in Kamerun angekommen Zigaretten kaufen will und sie für zu teuer hält, blafft er hochmütig den Verkäufer an: “Halten Sie mich für einen Touristen?” Doch genau das ist er. Er rechnet falsch um, die Zigaretten sind billig. Das sind nur zwei Beispiele für die permanente Verunsicherung, der Figuren und Zuschauer ausgesetzt sind, ohne dass der Film darum größeres Aufhebens machen würde.
Auch die Frage nach Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe soll nicht beantwortet, sondern nur gestellt werden. Wer eben noch vernünftig argumentiert, ist gleich Verursacher von Verschwendung. Die Bilder von Afrika sind nicht einheitlich. In der Figur des Franzosen Signac, der seine materiell überlegene Position schamlos ausnutzt, hallt eine großkotzige koloniale Attitüde nach. Aber auch Alex ist nicht frei von arroganter Selbstgewissheit, seine afrikanische Abstammung behindert sogar eher seine Reflexion.
Dass sich Köhler nicht anmaßt, ein realistisches Bild von Afrika zu zeichnen, zeigt sich in der mehr als zaghaften Anlehnung an Joseph Conrads “Herz der Finsternis”. Ebenso wie dort wird ein Europäer nach Afrika geschickt, um dem zweifelhaften Wirken eines anderen Europäers nachzuforschen. Ebenso wie dort entzieht sich der Gesuchte, der Suchende findet vor allem Legenden vor. An Afrika verrückt zu werden, ist – so legt Köhler nahe – eine europäische Perspektive und eine Projektion. Der Dschungel oder besser: die europäische Idee davon wird Ebbo und mit ihm Alex aufsaugen, absorbieren. Damit führt auch die Erzählung von Afrika an ihr eigenes Ende. Und Köhler reflektiert gleich mit, dass auch ihm Afrika notwendig zum Vehikel – eben zur Projektionsfläche – gerät, wenn er von der Identität seiner Figuren spricht.
Verrückterweise ist “Schlafkrankheit” zugänglicher als die früheren, spröderen Filme von Ulrich Köhler. Weniger Stilisierung, weniger Schweigen. Geblieben ist, dass Fremdheit für seine Figuren der natürlichere Zustand ist. Und dass sie bei ihrer Suche nach einer passenden Umgebung, also nach Identität, nicht unbedingt ein Ziel erreichen. (Sven Sonne)
“Schlafkrankheit”, Deutschland, Frankreich, Niederlande 2011, 91 Min., Regie: Ulrich Köhler, Darsteller: Pierre Bokma, Jean-Christophe Folly, Jenny Schily, Hippolyte Girardot, Sava Lolov, gefördert durch die Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein.
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