60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Forum

Auf der Suche nach der versteckten Wirklichkeit

„Der Tag des Spatzen“ (Philip Scheffner, D 2010)

Philip Scheffner nennt seinen Dokumentarfilm einen „politischen Naturfilm“. Schon diese Bezeichnung von „Der Tag des Spatzen“ scheint merkwürdig, man kann auch sagen: bemerkenswert. Nun geht es in dem Film nicht, wie man nach dieser Ankündigung meinen könnte, um einen umweltpolitischen Appell zum Schutz der bedrohten Vogelart der Spatzen, sondern um einen eigenartigen filmischen Essay, der ornithologische Naturbeobachtungen und Vogelgeschichten mit Erörterungen verknüpft, ob in Deutschland die Tatsache verdrängt oder heruntergespielt wird, dass sich die Bundeswehr in Afghanistan in einem Krieg befindet und damit auch unser Land.
Wie das gehen soll? Nun, da der Krieg in unserem Land (in letzter Zeit immer weniger erfolgreich) versteckt wird und von den politisch Verantwortlichen z.T. spröde damit umgegangen wird, nähert sich Scheffner mit ornithologischen Methoden, mit dem Mittel der vorsichtigen Naturbeobachtung seinen Objekten bzw. Subjekten: versteckte Kamera und Mikrofon im Gebüsch werden nicht nur zur geduldigen Vogelbeobachtung genutzt, sondern auch, um der bei dieser Thematik öffentlichkeitsscheuen Bundeswehr feinfühlig näher zukommen. So macht sich Scheffner in Deutschland „auf die Suche nach dem Krieg“. Dabei bleiben die Vögel immer präsent, werden geduldig von der Kamera beobachtet, auf Wiesen und Feldern, Zäunen und Dächern, auf Flugplätzen und in Kanonenrohen. Sie sind da, wie die von Gestrüpp versteckten militärischen Anlagen, die wir kaum bemerken, oder die donnernden Schießübungen am ostholsteinischen Ostseestrand, von denen sich die Urlauber bei ihrem Sonnenbad kaum stören lassen. Kriegsübungen in Deutschland in schöner Natur gehören zum Alltag wie auch die Trainingsflüge der Tornado-Flieger im Moseltal zeigen, das sich mit seiner engen Topografie gut für die Simulation afghanischer Landschaftsverhältnisse eignet.
Scheffner nimmt zwei Ereignisse aus dem Herbst 2005, die nichts miteinander zu tun haben, zum Ausgangspunkt seiner filmischen Verknüpfungen: Am 14. November 2005 wird im niederländischen Leeuwarden ein Spatz erschossen, nachdem er 23.000 Dominosteine einer TV-Show umgeworfen hat. Am gleichen Tag kommt in Kabul ein deutscher Soldat bei einem Selbstmordattentat ums Leben. Der Film widmet sich zu Beginn sehr ausführlich dem Schicksal des holländischen Spatzen, erklärt wie ein kleiner Vogel einen Rekordversuch gefährden konnte, wie er erschossen wurde, warum das Ganze sich dann aufgrund der ernormen Publizität zur Staatsaktion auswuchs. Danach folgt der Film zunächst genretreu wie in einem Naturfilm der Beobachtung von Spatzen und anderen Vögeln in ihren Lebensräumen, scheint sich fast darin zu verlieren, bis sich allmählich, zuerst besonders auf der Tonspur, eine zweite Ebene im Film auftut.
Verräterischer Kanonenspatz (Foto: Berlinale)
Scheffner wollte als „embedded journalist“, als eingebetteter Filmemacher herausbekommen, wie die Bundeswehr in Deutschland damit umgeht, dass sie am Hindukusch Krieg führt, wir aber zuhause in Frieden leben. Nach anfänglichem erstaunten, teils befremdeten Interesse der Militärs für sein Anliegen und nach langen ausführlichen Diskussionen des Filmemachers mit Offizieren zahlreicher Dienststellen wurde sein Wunsch dann aber von höchster politischer Stelle abgeblockt, nach dem Bombardement der Tanklastzüge in Afghanistan unter deutschem Kommando.
Scheffner macht diesen Prozess seines Scheiterns in der Produktion, sprich seine erfolglosen Versuche, Bilder bei der Bundeswehr machen zu dürfen und diese für eine Diskussion über den Krieg in Afghanistan zu öffnen, letztendlich fruchtbar, in dem er Telefonate mit Offizieren für Öffentlichkeitsarbeit, E-Mails und Memos in seinen Film einbettet und so die erschreckende Bunkermentalität der Bundeswehr offen legt. Hinter bürokratischem Prozedere lauert die Angst vor Öffentlichkeit. So entlarvt Schneffner die Informationspolitik der Bundeswehr als PR-Unternehmen, das beschönigt, anstatt sich kritischen Fragen zu stellen, nach dem Motto „keine andere Firma würde ihre Arbeit öffentlich machen“.
Zum Schluss des Films kommt es überraschend zu einem Perspektivwechsel. Ein Freund des Filmemachers, auch ein Vogelbeobachter, berichtet von seiner Verhaftung als Terrorist (er soll einen Brandanschlag auf eine militärische Einrichtung verübt haben) und wie ihm in Karlsruhe von der Bundesanwaltschaft der Prozess gemacht wurde. Das Geschehen wird aus der Perspektive des Betroffenen fragmentarisch erzählt und steht anfänglich scheinbar so wenig in Zusammenhang mit dem Thema wie die Spatzen mit dem Krieg. Doch auch hier öffnet sich im Ausklang des Films der Blick auf die Frage, ob der Krieg in Deutschland versteckt wird und wie man sich dazu verhalten soll.
„Der Tag des Spatzen“ ist in seinen gelassenen Vogelbeobachtungen und seiner forschenden, fragmentarischen Suche nach einer versteckten Wirklichkeit ein Experiment, das sich nicht jedem zu erschließen vermag. Doch diese ganz andere Erzählweise und Kombination von Themen, die eigentlich gar nichts mit einander zu tun haben, öffnet den Blick auf ungewohnte und damit eindringliche Art. (Helmut Schulzeck)
„Der Tag des Spatzen“, D 2010, 100 Min., 35mm (gedreht auf HDCam), Regie, Schnitt: Philip Scheffner, Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner, Kamera: Bernd Meiners, Ton: Pascal Capitolin, Volker Zeigermann, Förderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH), Medienboard Berlin Brandenburg, Mitteldeutsche Medienförderung, Filmstiftung NRW, Deutscher Filmförderfonds, FFA Drehbuchförderung, Werkleitz (Supported Artist).
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