60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Wettbewerb
Anarchie und Poesie
“Mammuth” (Benoît Delépine, Gustave der Kerverne, F 2010)
Ein Mann, ein Motorrad, eine Straße in die Vergangenheit. Gérard Depardieu verkörpert die Wuchtbrumme Serge “Mammuth” Pilardosse. Der frisch pensionierte Fleischer läuft prompt Gefahr, zu einer echten Nervenbelastung für seine Frau (Yolande Moreau) zu werden und in ein Rentnerloch zu fallen. Selbst einfachste Erledigungen wie der Einkauf im Supermarkt enden im Fiasko, weil der einfältige Mammuth sich mit der Hilfskraft an der Fleischtheke anlegt oder den Einkaufswagen zwischen zwei Autos verkeilt. Die finanzielle Misere spitzt sich zu, denn Mammuth bekommt seine Rente erst dann vollständig ausgezahlt, wenn er alle Rentenbescheide seiner ehemaligen Arbeitgeber zusammen hat. Also holt er widerwillig die verstaubte Münch Mammut 1973 aus der Garage – das ist wie Fahrrad fahren: verlernt man nie – und schwingt sich in den Sattel. Mammuth ist zurück auf der Straße.
Wieder auf der Straße: Mammuth alias Gérard Depardieu (Foto: Berlinale)
Die Regisseure Benoît Delépine und Gustave der Kerverne (“Louise Hires A Contract Killer”, F 2008) schrieben Gérard Depardieu die Figur des Mammuth auf den Leib. Nicht nur befreien sie ihn mit einem ungewöhnlichen formellen Ansatz – 16-mm-Handkamera und improvisierte Szenen – aus der Routine, damit er sein Bestes geben kann. Die Super-8-Ästhetik setzt Depardieu in ein neues, ungewohntes Licht, befreit die Persona des Schauspielers von den vielen, vielen historischen Figuren und erfolgreichen komödiantischen Rollen der letzten Jahre. Delépine und der Kerverne erinnern daran, dass Depardieu Anfang der 70er seinen Durchbruch als frischer, unberechenbarer Charakterdarsteller hatte, u. a. unter der Regie von Bertrand Blier in “Die Ausgebufften” (F 1974). Und Depardieu nutzt die Chance, geht in die Vollen. Er gibt seinem Mammuth die Kraft und Dickköpfigkeit eines Elefanten mit der sprichwörtlichen dünnen Haut. Sein Mammuth hat zwar den Weg verloren, aber noch nicht aufgegeben. Kaum sitzt er auf dem Motorrad, reißt er die Arme hoch; es kommt die Erinnerung an damals, an das wilde Leben in den 70ern zurück, als die Straße noch vor einem lag und nicht hinter.
“Mammuth” ist aber nicht nur ein Film über das Erinnern und eine Reise zur eigenen Herkunft, sondern auch über die verlorene Würde und Entfremdung des arbeitenden Menschen. Auf seinem Weg trifft Mammuth auf teilnahmslose 400-Euro-Kräfte, halb demente Schreibtischwichser und weinende Handlungsreisende. Allen gemein ist, dass sie die Freude an der Arbeit verloren haben. Freude am Leben ist das, was Mammuth letztendlich finden wird, auch wenn ihn Isabel Adjani als mahnender Geist der Vergangenheit heimsucht. Sie starb bei einem Motorradunfall, doch nun entlässt sie ihn und er sich aus der alten Schuld. Auch für eine Wiederbegegnung mit dem Bruder ist es zu spät, dafür führt ihn die kunstbeflissene Nichte Miss Ming zurück zur Poesie des Lebens. Wenn Mammuth dann zu seiner Frau heimkehrt und sie zärtlich in die Arme schließt, dann haben wir vielleicht keinen kohärent strukturierten Film gesehen; aber einen, der auf kurvenreicher Strecke Gas gibt und das Leben feiert, mit allen Höhen und Tiefen. Und Mammuth auf der Münch ist eines der bleibenden Bilder der Berlinale 2010. Alles ist gut, solange noch genügend Sprit im Tank ist. (dakro)
“Mammuth”, F 2010, 90 Min., 35mm, Buch, Regie: Benoît Delépine, Gustave der Kerverne, Kamera: Hugues Poulain, Schnitt: Stéphane Elmadijan, Darsteller: Gérard Depardieu, Yolande Moreau, Isabelle Adjani, Miss Ming u.a.