13. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide
Gast-Festival der Augenweide auf internationalem Niveau: DOK Leipzig
Keine leichte Aufgabe, aus 2.000 Einreichungen in nur vier Wochen 30 bis 40 Filme auszuwählen, die den internationalen Wettbewerb des Internationales Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm bestreiten. “Allein eine Geschichte zu erzählen, reicht da nicht”, so Matthias Heeder, selbst Dokumentarfilmer und Mitglied der Auswahlkommission für das Festival. “Es muss eine universelle Wahrheit aufscheinen.” Über 300 Filme laufen jedes Jahr Ende Oktober/Anfang November auf “DOK Leipzig”, so der praktische Kurztitel des Festivals. Neben dem internationalen Wettbewerb gibt es einen deutschen sowie einen Kurz-Doku-Wettbewerb und natürlich die Sparte Animationsfilm. Außerdem wurde ein internationaler Nachwuchswettbewerb, Generation DOK, ins Leben gerufen. Aus rund 1.000 Einreichungen werden in dieser Sektion im Schnitt ein Dutzend Filme auf die Leinwand gebracht. Das Augenmerk des Festivals liegt auf dem künstlerischen, abendfüllenden Dokumentarfilm, typische Fernsehformate haben in der Auswahl keine Chance.
Das Leipziger Festival ist das älteste und größte für Dokumentarfilm in Deutschland. Als Initiative des “Club der Filmschaffenden der DDR” ging es 1955 als “Gesamtdeutsche Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm” an den Start. In der bewegten Geschichte des Festivals gibt es viele Umbrüche und eine beständige Fortentwicklung, die meist mit neuen Festivalleitern einher gingen. 2004 führte der jetzige Direktor Claas Danielsen, selbst Filmemacher, das Fortbildungsprogramm für Nachwuchs-Dokumentarfilmer, “Discovery Campus e.V.”, und den Wettbewerb für den deutschen Dokumentarfilm ein. Mit der Etablierung des Branchentreffpunktes “DOK Industry” und der digitalen Plattform zur Sichtung sämtlicher Festivalfilme “DOK Markt Digital” stieg die Besucherzahl des Filmmarktes binnen Jahresfrist auf das Doppelte. Im Jubiläumsjahr 2007 konnte DOK Leipzig mit knapp 31.000 Zuschauern einen Rekord verbuchen. Mittlerweile werden jährlich knapp 50.000 Euro an Preisgeldern vergeben.
Aus dem reichhaltigen Katalog des DOK Leipzig brachte Matthias Häder ein etwa 100-minütiges Programm bestehend aus zwei Dokumentarfilmen und zwei Animationsfilmen nach Kiel.
Dass es zwischen diesen Sparten sehr gelungene cross-over geben kann, zeigte der Animationsfilm “Chainsaw” (2007) des Australiers Denis Tupicoff. “Chainsaw” erzählt die Geschichte von dem Holzfäller Frank Gardner, seiner Frau Ava und ihrem Seitensprung mit einem Rodeo-Cowboy. Gleichzeitig spekuliert der Film über die tatsächliche Affäre der Hollywood-Schauspielerin Ava Gardner mit der spanischen Stierkämpfer-Legende Luis Miguel DominguÃn. Die Animation persifliert sehr reizvoll den Realfilm, indem sie typische Merkmale des filmischen “Look” – krisseliges Videomaterial oder Schrammen auf historischen Wochenschauen – in die Animation übernimmt. Ob die leidenschaftliche Affäre der Aktrice mit dem Stierkämpfer tatsächlich der Grund für den Selbstmordversuch von Gardners Ex-Ehemann Frank Sinatra war, bleibt ungewiss. Die spielerische Form des Animationsfilms, gesprenkelt mit gemeinsamen Real-Aufnahmen der drei Entertainer, darf aber diesen Schluss ziehen.
Sein Abschlussfilm an der National Film Television School in London führte den jungen Bulgaren Ilian Metev zurück in sein Heimatland. Für mehrere Monate beobachteten er und sein Team die allesamt greisen Einwohner des fast ausgestorbenen 59-Seelen-Dorfes “Goleshovo”. Das anrührende Portrait dieser Altersgemeinschaft beklagt den Verlust der funktionierenden, ländlichen Dorfgemeinschaft durch das Abwandern der Jungen in die Städte. Der Film feiert die Vitalität der Alten, ihre weise Bescheidenheit und verspielte Religiosität. Die kurze Laufzeit nutzt Metev sehr effizient. Er bleibt dicht an seinen Protagonisten, räumt alltäglichen Ritualen denselben Raum wie skurrilen Prozessionen ein. “Goleshovo” weckt die Sehnsucht nach einer verlorenen Welt der fürsorgenden Lebensgemeinschaft, in der auch Schicksalsschläge und der allgegenwärtige Tod bewältigt werden.
Erstaunlich sind auch die Beobachtungen, die das Team um den Regisseur und studierten Soziologen Marcin Koszalka für die knapp halbstündige Doku “Till It Hurts” machen konnte. Die intime Studie einer besonderen ménage a trois wurde für das polnische Fernsehen produziert, was das Erstaunen über diesen Film nur noch steigert. Ein 53-jähriger Psychiater verliebt sich in eine etwa gleichaltrige Frau, der Film eröffnet mit romantischen Liebkosungen der beiden im sonnendurchfluteten Park. Doch er lebt noch bei seiner Mutter, die ihrer Verlustangst in Hasstiraden über die neue Freundin Luft macht. Es beginnt ein Psychoduell zwischen Mutter und Sohn, um eine emotionale Abnabelung und eine gemeinsame Zukunft mit einer akzeptierten Schwiegertochter. Ein echter Pyschothriller.
Bereits mit seinem ersten Animationsfilm heimste der an der Kunsthochschule Arts Décoratifs in Paris ausgebildete Grafiker und Illustrator Jérémy Clapin viele Preise ein. Sein zweiter Film “Skhizein” ist eine zeichnerisch attraktive, äußerste witzige, wenn auch im Ton ernster Verzweiflung vorgebrachte Reflektion über das Gefühl, “neben sich zu stehen”. Während damit im allgemeinen ein Zustand momentaner Verwirrtheit gemeint ist, erfährt der Held von Clapins “Skhizein” die harte Realität, exakt 91 cm neben sich zu stehen. Ein schöner Schlusspunkt für eine hervorragende Filmauswahl.
Das Programm des jeweiligen Gastfestivals auf der Augenweide ist leider nach wie vor ein Geheimtipp. Dabei liegt es auf der Hand, dass in diesen Vorstellungen nur Perlen aus dem dokumentarischen oder tricktechnischen Genre präsentiert werden. Meist nimmt man sich sofort vor, zum nächsten Termin zum Festival zu reisen. Bleibt zu hoffen, dass es auch für das Gast-Programm des DOK Leipzig noch einen Wiederholungstermin geben wird. (dakro)