57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

What’s America for me?

„Killer Of Sheep“ (Charles Burnett, USA 1977)

Die Berlinale gibt meist in ihren Nebenreihen Retrospektive, Hommage oder Spezial Gelegenheit, verschüttete oder schwer zugängliche Filmperlen auf der Leinwand zu sichten. In diesem Jahr ermöglichte das von Christoph Terhechte geleitete Forum des jungen Films die (Wieder-) Entdeckung eines modernen Klassikers.

An Wochenenden verteilt über das Jahr 1977 drehte Charles Burnett seinen Abschlussfilm am American Film Institut mit einem lächerlichen Budget von 10.000 $ auf 16 mm Schwarz-Weiß-Material. Im bewussten Gegensatz zu den damals üblichen Blaxploitation-Filmen entwarf der afro-amerikanische Filmstudent „Killer Of Sheep“ als eine Milieustudie in der Black Community von Watts, einem Stadtteil von South Central, Los Angeles.

Die Geschichte kreist um Stan und seine Familie. Der junge Familienvater verdient sein Geld mehr schlecht als recht in einem Schlachthof. Nicht nur, dass er seine Familie damit kaum ernähren kann, das tägliche Einerlei des Schlachtens fordert auch psychisch seinen Preis. Seine Frau vermag ihn kaum noch aus seiner Lethargie zu holen. Beinahe ist er der Versuchung erlegen, seinen Freunden bei einem Auftragsmord zu helfen, nur um etwas Geld heran zu schaffen.

„Killer Of Sheep“ vermeidet den großen dramaturgischen Bogen zugunsten eines episodenhaften Aufbaus. Burnett wollte „ein Stück aus dem Leben schneiden“. Statt einer dramatischen Überhöhung der sozialen Benachteiligung der afro-amerikanischen Arbeiterklasse, konzentriert sich Burnett auf die Seelenzustände seiner Hauptfigur Stan und seiner Familie. Trotz aller Not und der Versuchung des schnellen Geldes wird Stan immer wieder seinen moralischen Prinzipien folgen. Ein Held des Alltags. Seine Frau wird ihn nie aufgeben.

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Henry Gayle Sanders in „Killer of Sheep“ (Foto: Milestone Films)

Sorgsam kadrierte Dialogszenen mischte Charles Burnett mit quasi-dokumentarischen Aufnahmen spielender Ghetto-Kids. Es gelingt ihm, die Atmosphäre und den Alltag in der Community einzufangen. Viele Szenen wirken improvisiert, doch Burnett versicherte im Gespräch, dass sie bis auf wenige Ausnahmen im Script festgelegt und in einem Storyboard vor Drehbeginn visualisiert wurden. Die Darsteller sind meist Laien, was zum authentischen, unverfälschten Charakter des Films beiträgt. Dokumentarisch sind die Montageszenen im Schlachthof, Darsteller Henry Gayle Sanders (Stan), führte alle Arbeiten bis auf das tatsächliche Töten der Tiere selbst aus. Die Bilder erinnern fast zwangsläufig an Georges Franjus „Le Sang des bêtes“ (1949), einer Dokumentation über die Pariser Schlachthöfe. Man wird daran erinnert, das die Grundkonstanten menschlicher Bedürfnisse und ihre industrielle Befriedigung sich nicht ändern, egal zu welcher Zeit und in welchem Teil der Erde. Die Namensgebende Schlachtung der Tiere ist aber auch Symbol für den Umgang mit der Arbeiterklasse schlechthin. Unterstrichen wird die besondere Situation der afro-amerikanischen „working poor“ durch Burnetts Musikwahl an dieser Stelle: „What’s America for me?“ tönt es aus William Grant Stills „Afro-American Symphony“.

Man ist erstaunt, welche unglaubliche Reife Charles Burnetts Debutfilm ausstrahlt. Wenn er als Vorbilder und Inspiration u. a. Jean Renoirs „The Southerner“ (1945) nennt, so ist das nicht im geringsten vermessen, man ahnt zudem Einflüsse des italienischen Neo-Realismus. „Killer Of Sheep“ hat eine berührende, humanistische Qualität und ist zudem dank seiner authentischen Darstellung und Inszenierung ein Zeitdokument. Nach einer Aufführung auf der Berlinale im Jahre 1981 war der Film in Europa nicht und in den USA nur selten und auf schlechten 16 mm Kopien zu sehen. Einer regulären Veröffentlichung standen die nicht geklärten, teuren Musikrechte des sorgfältig zusammengestellten Soundtracks im Weg. 1990 wurde der Film von der Library of Congress zum „National Treasure“ ernannt, 2002 wurde er von National Society of Film Critics zu einem der „100 Essential Films“ gewählt. Auf der diesjährigen Berlinale konnte „Killer Of Sheep“ in einer frisch restaurierten, vom UCLA Television and Film Archive finanzierten 35 mm Fassung bestaunt werden. Die Musikrechte wurde geklärt, einer Veröffentlichung steht nichts mehr im Weg. Der um filmisch wertvolle Raritäten bemühte New Yorker Arthouse Verleih „Milestone“ wird den Film dankenswerter Weise in diesem Frühjahr auf DVD publizieren. (dakro)

Killer Of Sheep, USA 1977, 83 Min., 35 mm (Blow Up von 16 mm), Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Produktion: Charles Burnett, Ton: Charles Bracy, Darsteller: Henry Gayle Sanders, Kaycee Moore, Charles Bracy, Angela Burnett, u.a. Charles Burnetts Filme bei Milestone: www.milestonefilms.com

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