58. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2008
Überleben in South Central L.A.
„My Brother’s Wedding“ (Charles Burnett, USA 1983, USA/D 2007), „South Main” (Kelly Parker, USA 2008)
Als Forest Whitaker im vergangenen Jahr den Academy Award für den besten Hauptdarsteller entgegennahm, betonte er in seiner Dankesrede, welche Bedeutung der Preis für einen Jungen aus „South Central“ habe. Denn obwohl die Entfernung zwischen dem berüchtigten Stadtteil im Süden Los Angeles und dem Kodak Theatre nur wenige Kilometer misst, liegen doch Welten dazwischen.
Der Süden Los Angeles’ wurde in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend zum Herzen der „Black Community“, weil sich die wohlhabende weiße Bevölkerung neue Häuser in anderen Stadtteilen leisten konnte. In den 50ern war das Viertel wiederholt Schauplatz gewalttätiger Rassenunruhen, neue „Freeways“ unterstrichen die räumliche Trennung South Centrals von anderen Stadtteilen. Spekulanten spielten weiße Hauseigentümer gegen schwarze Wohnungssuchende aus und eliminierten durch das „Blockbusting“ den letzten Rest eines gemischten Viertels. Die Unruhen der 60er vertrieben die schwarze Mittelschicht aus dem Viertel. Zunehmende Arbeitslosigkeit sowie Banden- und Drogenkriminalität in den 70ern bis heute machten aus South Central dann endgültig ein Synonym für das Ghetto in der modernen Wohlstandsgesellschaft und den Niedergang der Metropolen. Filme wie „Colors – Farben der Gewalt“ (Hopper, USA 1988), „Menace II Society“ (Hughes Brothers, 1993) und „Boyz in the Hood“ (Singleton, USA 1991) lieferten die blutigen Bilder zur „urban legend“ South Central. In einem hilflosen Versuch, das Image des Viertels aufzubessern, wurde aus South Central L.A. auf Geheiß der städtischen Behörden anno 2003 „South Los Angeles“.
Auf der Berlinale 2008 liefen zwei Filme, in denen South Central Los Angeles der heimliche, aber unabdingbare Hauptdarsteller ist. Nach seinem Erstling „Killer of Sheep“ (USA 1977) blieb Charles Burnett auch in „My Brother’s Wedding“ seinem Schauplatz South Central und einer naturalistischen Inszenierung treu. Wie schon sein Debutfilm wurde auch „My Brother’s Wedding“ bisher kaum aufgeführt. Knapp 25 Jahre nach der verfrühten und daher desaströsen Premiere des unfertigen Films auf dem Filmfestival New York präsentierte die Berlinale-Sektion Forum nun eine von Burnett überarbeitete und gekürzte, digitale Fassung.
„My Brother’s Wedding“, überarbeitete Fassung (Foto: Berlinale)
Kelly Parkers aktuelle Dokumentation „South Main“ dagegen feierte ihre Premiere auf der diesjährigen Berlinale. Beide Filme werfen einen kritischen und mitfühlenden Blick auf das Leben und Überleben der „Black Community“ in South Central L.A.
Charles Burnett, Jahrgang 1944 und selbst in South Central aufgewachsen, erzählt in „My Brother’s Wedding“ die Geschichte von Pierce Mundy, einem jungen Afroamerikaner, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat, aber auch keine Anstalten macht, ihn zu suchen. Seine Eltern betreiben eine chemische Reinigung, in der auch Pierce jobbt und sich mit seinem Vater zum Zeitvertreib Scheingefechte liefert. Seine fromme Mutter versucht, ihm etwas Moral einzubläuen, doch bis Pierce Verantwortung übernehmen kann scheint es noch ein weiter Weg. Pierce älterer Bruder ist Rechtsanwalt und steht kurz vor der Heirat mit einer Mittelschichttochter. Pierce will das nicht wahrhaben und fügt sich nicht in das neue Familienszenario. Trotzdem wird er zum Besten Mann des Bräutigams ernannt. Aber die Mutter seines besten Freundes bittet ihn, auf den frisch aus der Haft Entlassenen Acht zu geben. Als der Freund erschossen wird, muss sich Pierce zwischen der Beerdigung und der gleichzeitig stattfindenden Hochzeit seines Bruders entscheiden. Letztendlich kann er es keinem Recht machen. Burnett portraitiert Pierce als unentschlossenen Youngster, „der in sozialer Hinsicht das embryonale Stadium noch nicht hinter sich gelassen hat“, so der Regisseur. In „Killer of Sheep“ steht Familienvater Stan am Rande des physischen Zusammenbruchs und muss sich doch täglich aufs Neue entscheiden, das Richtige zu tun. Pierce muss überhaupt erst die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, erkennen. Die bewusst auf Schaueffekte verzichtende Inszenierung und das Gefühl für Alltags-Realitäten machen Burnetts frühe Filme zu zeitlosen Dokumenten der „Black Community“. In diesen Jahren darf Charles Burnett Dank restaurierter Fassungen seiner Erstlinge und Retrospektiven zu seinen Ehren die verspäteten Lorbeeren für seinen Beitrag zu einem „Black Cinema“, das sich zur humanistischen Tradition eines Jean Renoir bekennt, entgegen nehmen.
„My Brother’s Wedding“, Fassung von 1983 (Foto: Berlinale)
Kelly Parker, eine junge Filmemacherin aus Detroit, begleitet in ihrem ersten, abendfüllenden Dokumentarfilm „South Main“ drei allein erziehende, afroamerikanische Mütter über einen Zeitraum von neun Monaten. Ihre Beobachtungen beginnen einen Tag bevor Latisha, Tajuana und Tena und ihre Kindern auf Anordnung der Stadt Los Angeles aus ihren Wohnungen ausziehen müssen. Der im Viertel als „Headquarter of Death“ bekannte Gebäudekomplex wurde 2005 abgerissen, um der berüchtigten Straßenbande „69 East Coast Crisps“ die Basis zu entziehen. Antoine, Latishas Verlobter, wird an diesem Tag das unschuldige Opfer eines Schusswechsels zwischen rivalisierenden Gangs. Mit der minutiösen Schilderung des Tathergangs durch Latisha und dem Geständnis, dass sie mit dem Kind von Antoine schwanger ist, eröffnet Kelly Parker einen Reigen intimer Gespräche mit den drei Frauen. Parker konzentriert sich auf die alltäglichen Sorgen in der nicht-alltäglichen Situation ihrer Protagonistinnen, und webt zwischen ihre geduldigen Interviews Beobachtungen eines gelösten, nachbarschaftlichen Miteinanders beim Barbecue.
Latisha Fikes in „South Main“ (Foto: Berlinale)
Kelly Parker, selbst nur von ihrer Mutter groß gezogen und in ihrer Kindheit mit häufigen Umzügen konfrontiert, kann nachfühlen, warum die Frauen sich nur schwer aus ihrer Nachbarschaft lösen können, auch wenn diese eine ständige Gefahr bedeutet. Parker lässt Tajuana und Tena über die Suche nach neuen Jobs, den Ärger mit dem Vermieter und der Wohnungsbehörde erzählen und verzichtet dabei auf die Dramatisierung und Emotionalisierung durch widersprechende Aussagen von Politikern oder Archivmaterial von Polizeiaktionen gegen die organisierte Kriminalität in South L.A. Die Ausdauer und Kraft, die die Frauen aufbringen, um die Widrigkeiten ihres Lebens zu meistern und ihren Kindern ein einigermaßen stabiles Zuhause zu bieten, nötigt Respekt ab. Es ist Parkers Geschick, dass „South Main“ dem Zuschauer trotz Sympathie erzeugender Nähe zu seinen Protagonistinnen einen objektiven Blick auf das Leben in South Central Los Angeles möglich macht.
Mit der Geburt von Latishas Sohn Antoine Jr. und dem Besuch der Großfamilie am Kindbett endet „South Main“ auf einer hoffnungsvollen Note: Das Leben findet einen Weg, auch in South Central. (dakro)
My Brother’s Wedding, USA 1983, USA/D 2007, 78 Min., 35mm 4:3 auf DV HD, Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Produktion: Charles Burnett., Koproduktion: ZDF, Darsteller: Everette Silas, Jessie Holmes, Gaye Shannon-Burnett, Ronald E .Bell, Angela Burnett, u.a.
South Main, USA 2008, 77 Min., DV 24P 4:3, Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Kelly Parker, mit Latisha Fikes, Tajuana Green, Tena McConico