57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Sehnsucht nach Familie – Das Familienbild in den asiatischen Filmen

„Ad Lib Night“ (Lee Yoon-Ki, Korea 2006)
„Mona Lisa“ (Li Ying, VR China/Japan 2007)
„Lost in Beijing“ (Li Yu, VR China/Hong Kong 2007)
„Faces Of A Fig Tree“ (Momoi Kaori, Japan 2006)

Die Verhandlung des Themas Familie in der Erzählung, egal ob Film oder Roman, ist ein verlässlicher Indikator für den sozialen Zustand und die Veränderungen in einer Gesellschaft. Während in europäischen und deutschen Filmen die Familie oft als gescheitertes Modell beschrieben und nach alternativen Strukturen gesucht wird, scheint die Sehnsucht nach einer intakten Familie im asiatischen Kulturkreis ungebrochen.

Für diese Beobachtung sprechen eine Reihe von Filmen in verschiedenen Sektionen der diesjährigen Berlinale. Lee Yoon-Ki stürzt in „Ad Lib Night“ (siehe Einzelkritik) eine junge, alleinstehende Großstädterin in die Enge eines dörflichen Familienlebens. In einer Nacht konzentrieren sich die Emotionen innerhalb einer Großfamilie, denn das Familienoberhaupt liegt im Sterben. Die Protagonistin wird in die Rolle der reuig heimkehrenden Tochter gezwungen, um dem Sterbenden den letzten Wunsch zu erfüllen. Für die junge Frau stellt sich die Frage nach der Unvereinbarkeit von engen, familiären Bindungen und selbstbestimmtem Leben. Für den Koreaner Lee Yoon-Ki ein zunehmend unauflösbarer Gegensatz.

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Zwischen Freiheit und Familie – „Ad Lib Night“ (Fotos: Berlinale)

Das Sterben oder der Tod eines Familienmitgliedes sind grundlegende dramaturgische Mittel, meist zwingen sie die Hauptfiguren zu einer Standortbestimmung und zum Handeln. Ob dramaturgische Mittel oder die Realität die Geschichte führen, fragt man sich nicht nur einmal bei „Mona Lisa“, dem vierten Film des chinesischen Regisseurs Li Ying. In dem „dokumentarischen Spielfilm“ wird die Geschichte einer zerfallenden Großfamilie in der südchinesischen Provinz Fujinan erzählt. Das Besondere: Alle Protagonisten spielen sich dabei selbst. Als bei der Großmutter Krebs in finalem Stadium diagnostiziert wird und eine Operation weder finanzierbar ist noch Aussicht auf Erfolg hat, versuchen die Enkel, die Erlaubnis für einen Freigang der Mutter aus einem weit entfernten Frauengefängnis zu erwirken. Möglicherweise durch die Anwesenheit der Kamera motiviert, zeigen sich die Behörden von ihrer besten Seite. Letztendlich darf die Inhaftierte an das Sterbebett ihrer Mutter. Begleitet von ihrer Adoptivtochter machen die beiden Frauen sich auf einen lange Zugreise, die Gelegenheit zu einer Aussprache und Aufschluss über den Haftgrund gibt. Denn die Adoption der Tochter ist umstritten: Hat die Mutter die Tochter als Kleinkind tatsächlich „gefunden“ und aufgenommen oder den leiblichen Eltern entführt? Tatsächlich werden in China aufgrund der „Ein-Kind-Politik“ immer wieder kleine Mädchen ausgesetzt. Der Film zeigt ungeschönt die Folgen engstirniger Sozialpolitik und überholter, tradierter Werte und regt gleichzeitig zur Meta-Diskussion über das Wechselspiel zwischen Dokumentieren und Dokumentiertem an. Denn auch wenn die digitale Technik heute unauffäliges und flexibles Equipment zur Verfügung stellt, die besondere Situation des Beobachtet-Seins und die bewusste Reaktion darauf lassen sich allein durch Technik-Minimierung nicht verhindern. Tatsächlich erhofft sich die Familie durch den Film eine frühzeitigere Entlassung der Mutter.

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(Selbst?-) Darstellerin Xiu Xiu in „Mona Lisa“

Der Wettbewerbsbeitrag „Lost in Beijing“ von Regisseurin Li Yu bedient sich ebenfalls der digitalen Technik: Er wurde auf HD gedreht. Doch die wackelige DV-Handkamera ist hier eher verzichtbare Attitüde, vielleicht noch Fingerzeig auf die angestrebte Authenzität. Doch diesen Hinweis braucht der Film nicht, ebensowenig die unfreiwillige Promotion-Unterstützung durch das Zensur-Skandälchen um Sex-Szenen und Bilder von dreckigen Straßen in der um Olympia-Reife bedachten Hauptstadt der Volksrepublik. Die Geschichte um das geschäftstüchtige, aber durch den unerfüllten Kinderwunsch auseinandergelebte Ehepaar und das junge, sich mit kleinen Jobs über Wasser haltende Liebespaar enthält den eigentliche Zündstoff und bringt die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in den Großstädten Chinas auf den Punkt. Seit die (Volks-) Wirtschaft von den zentralen Kadern von der Leine gelassen wurde, versuchen die meisten Großstädter, ihr Geschäft zu machen. Äußeres Zeichen des explodierenden Wohlstandes in den Metropolen sind die aus europäischer Sicht oft grotesk-hässlichen Wolkenkratzer. In genau solch einem Hochhaus kommt es zur Vergewaltigung der jungen Masseuse Liu Ping Guo durch ihren Chef Lin Dong, just beobachtet durch den Fensterputzer und Verlobten. Nachdem diverse Erpressungsversuche und Racheakte des Verlobten, einschließlich Seitensprung mit der Ehefrau, scheitern, sorgt die Nachricht von der Schwangerschaft Liu Ping Guos für eine Kehrtwende in der Beziehung der beiden Paare. Aus den „Unfallgegnern“ werden Geschäftspartner. Liu Ping Guo soll das Kind für den vermeintlichen Vater Lin Dong gegen eine beträchtliche Summe Geldes austragen. Die Parabel auf wirtschaftlichen Aufstieg und den damit einhergehenden Verlust von Familienwerten mag mit etwas Abstand grob gestrickt wirken, wird aber flüssig erzählt und durch das hervorragende Ensemble getragen. „Lost in Beijing“ braucht sicher keine formalen Authentizitätsbemühungen, um glaubwürdig eine der sozialen Folgen der freien Wirtschaft in der Volksrepublik China aufzuzeigen.

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Angekommen aber nicht aufgehoben im neuen Turbo-Kapitalismus der Beziehungen: „Lost in Beijing“

Mit ökonomischen Problemen hat die japanische Familie Kadowaki in „Faces Of A Fig Tree“ von Momoi Kaori nicht zu kämpfen, auf den ersten Blick scheint auch der Zusammenhalt gefestigt. Laut und schrill gehen die Vier miteinander um. Im traditionellen Holzhaus mit Mini-Garten samt namensspendendem Feigenbaum kommt keine Langeweile auf und vielleicht gerade deswegen entschuldigt sich Vater Oto für einige Wochen zu einem nächtlichen Baustellenjob. Tatsächlich schraubt er zweckfrei an Rohrleitungen und verbringt die meisten Zeit in einem noch leeren Apartment, bis ihn die Tochter wieder nach Hause holt. Kaum verstirbt er an einer plötzlichen Hirnblutung, verheiratet sich Mutter Maasa fluchtartig erneut und Tochter Yume entdeckt ihre Adoptionsurkunde. Der plötzliche Wandel von der intakten Familie zu einer fast zufälligen Schicksalgemeinschaft stellt die grundsätzliche Frage, welche Rolle die leibliche Familie in der (japanischen) Gesellschaft spielt und ob und warum sie unersetzbar bleibt. Dabei bleibt Momoi Kaori immer in der Gegenwart verwurzelt und drückt dies durch die Inszenierung seines Pop-Art-Filmes aus, der auf erzählerischer Ebene durch Zeitsprünge und Perspektivwechsel, und auf inszenatorischer Ebene durch die Überzeichnung der Charaktere und überbordende Ausstattung zu unterhalten weiß. Pop-Art funktioniert im japanischen Kino aber nur deshalb, weil sich das Land seit langem in der kulturellen Schwebe zwischen Moderne und Tradition bewegt und zudem ein eigenes kulturspezifisches Referenzsystem ausgebildet hat – kein Vorwärts ohne den steten Blick zurück. (dakro)

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Vorwärts mit dem Blick zurück: „Faces Of A Fig Tree“

Ad Lib Night / Aju teukbyeolhan sonnim, Korea 2006, 99 Min., 35 mm. Buch, Regie: Lee Yoon-ki (nach einer Geschichte von Azuko Taira), Kamera: Choi Sang-ho, Schnitt: Kim Hyung-joo, Jeong Kwang-jun

Mona Lisa / Meng Na Li Sha, VR China/Japan 2007, 110 Min., HDCam. Buch, Regie, Schnitt: Li Ying, Kamera: Liu Yonghong, Mitwirkende: Xiu Xiu, A Qiong

Lost in Beijing / Ping Guo, VR China/Hong Kong 2007, 112 Min., 35 mm. Buch: Li Yu, Fang Li, Regie: Li Yu, Kamera: Wang Yu, Schnitt: Zeng Jian, Darsteller: Tony Leung, Fan Bingbing, Tong Da Wei, Elaine Jin (Y.L.), Zeng Mei Hui Zi

Faces Of A Fig Tree / Ichijiku no kao, Japan 2006, 94 Min., 35 mm. Buch, Regie: Momoi Kaori, Kamera: Kugimiya Shinji, Schnitt: Oshima Tomoyo, Darsteller: Momoi Kaori, Yamada Hanako, Ishikura Saburo, Takahashi Katsumi, Iwamatsu Ryo, Mitsuishi Ken

 

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