57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Panoptikino der mythischen Moderne

„Prater“ (Ulrike Ottinger, Ö/D 2007)

„Hereinspaziert!“ tönt es aus den Jahrmarktsbuden, Geisterbahnen und Panoptika im Wiener Prater, heute wie damals wie ehedem … Die Zeit scheint still zu stehen an diesem mit all seinen dargebotenen Kuriositäten märchenhaften, wenn nicht mythischen Ort, dem Ulrike Ottingers Dokumentarfilm eine Art Denkmal setzt. Nahtlos fügen sich ihre Bilder von den sensations-sprühenden Fahrgeschäften des heutigen Prater in die historischen und so ist „Prater“ eben keine Dokumentation, die dessen Geschichte nachzeichnet, sondern ein collagenhaftes Forschen nach unvergänglichen, weil zeitlosen Augenblicken.

Der Jahrmarkt, die Kirmes, der Rummel als ein Ort für Träume, die sich nicht austräumen lassen, weil sie so sichtbar Träume sind. Der Jahrmarkt mehr noch eine „Traumfabrik“, als man sie dem Kino zuweilen nachsagt, ja, der Jahrmarkt als einer der Geburtsorte des Kinos, denn unter anderem im Prater wurden Anfang des 20. Jahrhunderts die bis dahin wegen ihrer „realistischen Illusion“ beliebten Panoptika („lebensechte“ Wachsfigurenkabinette) in die ersten Kinos verwandelt, weil die laufenden Bilder noch „echter“ anmutende Illusionen boten. Diesen Aspekt ihres rauschenden Prater-Bilderbogens betont Ottinger besonders und stellt damit nicht zuletzt die Frage nach dem Illusiven des Mediums Film in einer Moderne, die in ihrem aufklärerischen Anspruch und Wirkung längst nostalgisch geworden ist.

Aber nicht nur Keimzelle des Modernen, „neuer Medien“ der Illusion, war der Prater immer, auch ein Ort der Initiation. So gehörte der Prater-Besuch nach der Firmung zum Initiationsritual jedes Wiener Jugendlichen. Nach der Aufnahme in die geistliche Erwachsenenwelt die Aufnahme auch in die der weltlichen Verlockungen und Schimären. „Das Erstaunliche an der Kindheit ist, dass sie nur gehen kann, dass man einen Stempel aufgedrückt bekommt, den man nicht in der Hand hat“, sinniert Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek über den Prater als den „Ort ohne Elternhaus, der in mir immer wieder ausradiert wurde“, eine „Erlustigungsmaschine, deren Technik uns liebevoll aufnimmt … indem wir uns zeigen, schenken wir uns hin“. Ottinger zeigt Jelinek, die ihren Prater-Text rezitiert, wie sie den Kopf durch eines der Löcher eines Dioramas steckt, hinter denen noch heute Familienfotos geschossen werden. Das Häusliche gleichsam transformiert in die sichtbar gemachte Illusion, ein Jux, eine Belustigung mit fast mythischem Charakter.

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Jelineks Prater-Panoptikum: Weise Frau mit Kindheits-Kingkong (Foto: Berlinale)

Jelinkes Zitat ist damit nicht nur eines der hunderte Dokumente, die Ottinger in ihrem „Panoptikino“ präsentiert, sondern wird zum über das Dokument hinaus weisenden Zeichen. Eine symbolische Sichtweise, die Ottinger mit den Dokumenten und durch sie hindurch inszeniert. So entsteht aus dem collagierten Bilderbogen ein weit gespannter Bogen zwischen Mythos und Moderne, Märchen und Dokument, der die Moderne als Mythos und umgekehrt zeigt – hereinspaziert! (jm)

Prater, Ö/D 2007, 104 Min., 35 mm. Buch, Regie, Kamera: Ulrike Ottinger, Schnitt: Bettina Blickwede, Mitwirkende: Elfriede Jelinek, Elfriede Gerstl, Ursula Storch, Werner Schwarz, Herbert J. Wimmer, Veruschka (Vera Gräfin von Lehndorff)

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