57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Die Waisenknaben blicken ins Gehirn hinein

Das irrste Ereignis der Berlinale: „Brand upon the Brain!“ in der Deutschen Oper

„Dies ist das irrste Berlinale-Ereignis des Jahres“ versprach Christoph Terhechte, Leiter des Forums. Er versprach nicht zu viel. Schauplatz: nicht etwa der Berlinale-Palast, sondern die Deutsche Oper. Auf der Bühne: 34 Orchester-Musiker, drei Geräuschemacher, ein Männersopran und Isabella Rossellini – die leibhaftige Tonspur des Filmprojekts „Brand upon the Brain!“, dessen stumme Bilder sie live begleiten. Und wirklich: reinster, bester Wahnsinn mit grandioser Methode.

Guy Maddin, der kanadische Ausnahmeregisseur, erinnert sich. Das ist die ganze Geschichte. Ein gewisser Guy Maddin kehrt auf die Insel seiner Kindheit zurück, zum Leuchtturm, auf dessen Kanzel eine gruselige Mutter das Leuchtfeuer lenkt und in dessen Kellerlabor ein zaubrischer Vater experimentiert. Mutter späht Geheimnisse aus, Vater zapft Guys schöner Schwester aus einem Loch im Nacken Nektar ab – Guy ist gefangen in einem Alptraum des expressionistischen Horrorfilms, einer in Inzest und Perversion verstrickten Familie. Unwillkürlich denkt man an den frühen David Lynch.

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Erinnerungssturzregen – „Brand Upon the Brain!“ (Foto: Adam L. Weintraub)

Keine Frage, so ein abendfüllender Experimentalfilm verlangt dem Zuschauer viel ab, deutlich mehr als etwa das vergangene Berlinale-Special „Hamlet“ mit Orchesterbegleitung. Trotz Stummfilmästhetik ist „Brand Upon the Brain!“ keine cremige Nostalgie-Fantasie, sondern ein prasselnder Erinnerungssturzregen im Kopf dieses kleinen Guy, der nicht nur so aussieht wie Truffauts Antoine Doinel in „400 Coups“, sondern mindestens so viel Schläge und Liebesentzug einstecken muss. Guy hat nicht nur geliebte und eifersüchtig betrachtete Geschwister. Um ihn leben auch Waisenkinder. Die wahren Waisen aber sind wir, die arglosen Besucher der ausverkauften Deutschen Oper, diesem einzigen deutschen Zeugen dieser leibhaftigen Erinnerung. Auf der Bühne liegt gleichsam ein Gehirn ausgerollt, dem wir bei der Erinnerungsarbeit zusehen. Die Projektion der bildlichen Anschauungen ist ein dauerndes Zucken und Aufblitzen kleiner Bildsplitter und Texttafeln. Viele Bilder fehlen, viele sind unscharf, grobkörnig, schwarz und weiß, ohne Graustufen. An anderen Orten dieses Gehirns meldet sich die schöne, facettenreiche Stimme Isabella Rossellinis, deren Neigung zur Kreation des Wahnsinns nicht nur durch Lynchs „Wild at Heart“ legendär ist, sondern zuletzt auch durch Maddins vielbejubelten „The Saddest Music of the World“, in dem sie als Bierbaronin mit gläsernen Beinprothesen nach dem traurigsten Lied der Welt suchte. Jetzt trägt sie Anzug mit rotem Schlips, dazu die Haare zum Helm gesteift – eine androgyne und mehrdeutige Erscheinung, deren Stimme sich in alle Lagen und Rollen schmiegt und gleichzeitig schalkhafte Distanz bewahrt. Sie fühlt sich sichtlich wohl, besucht die Berlinale schon wieder nach dem letzten Jahr, als sie Maddins „My Dad Is 100 Years Old“, eine Hommage an ihren Vater Roberto Rossellini, präsentierte.

Nicht nur die Attraktion der wirklich agierenden Isabella Rossellini lässt dieses „irrste Ereignis“ zum tollsten Event werden. Sieht man aber „Brand Upon the Brain!“ mit integrierter Tonspur im Kino, droht nach einer halben Stunde Überanstrengung, als wäre man im Platzregen durchnässt. Hier bekommt man Zutritt zur Gehirnwerkstatt, sieht der Erinnerung bei der Puzzle-Arbeit zu. Unmittelbar klar wird, wie schnell die unterschiedlichen Geräusche und Bilder auseinander fallen könnten, würden nicht Arbeiter in ihrem Geräuschepark so beflissen hantieren, kneten, panschen und punktgenau das Kleckern des Nacken-Nektars, das Abstreichen der Butter, das Klitschen des Pinsels oder das Hüpfen der Waisenkinder legen, wenn sie den Sarg des verblichenen Vaters in den weichen Schlick stampfen.

Nichts gehört automatisch zusammen. Jede Kombination ist künstlich. Der Blick in Guy Maddins Werkstatt offenbart die Leistung des Hirns, die Einzelteile zu dem zusammenzusetzen, was man Erinnerungen nennt, deren Summe sich zur Identität fügt. Was auf den ersten Blick eine persönliche Autobiografie ist, erweist sich als Postproduktion, als Produkt der Manufaktur eines Mannes, der seine Eltern gern hassen möchte und um die Erkenntnis nicht herum kommt, dass er genau dazu das kontrollierende Auge der Mutter und den experimentellen Spleen des Vaters braucht. Maddins concerto grosso des experimentellen Horrorkinos ist ein Akt der Harmonisierung und Versöhnung. Im Wahn verborgen liegt der Sinn. (Gerald Koll, zuerst erschienen in „Kieler Nachrichten“)

Brand Upon the Brain!, CAN 2006, 95 Min., 35 mm (gedreht auf Super 8). Buch: George Toles, Guy Maddin, Regie: Guy Maddin, Kamera: Benjamin Kasulke, Schnitt: John Gurdebeke, Musik: Jason Staczek, Darsteller: Erik Steffen Maahs, Gretchen Krich, Sullivan Brown, Maya Lawson, Katherine E. Scharhon

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