58. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2008

Der Weg zurück, also vorwärts

„El camino“ (Ishtar Yasin Gutiérrez, Costa Rica / Frankreich 2008)

Durch eine bunte Scherbe, die sie auf dem Müllberg findet, auf dem die zwölfjährige Saslaya (Sherlyn Paola Velásquez), ihr jüngerer und stummer Bruder Dario (Marcos Ulises Jiménez) und beider Großvater nach Verwertbarem für den Lebensunterhalt suchen, sieht Saslaya den Himmel über Nicaragua. Eine Verheißung für ein besseres Leben. Von der Mutter, die ins benachbarte Costa Rica ging um zu arbeiten und ihre Kinder zurückließ, vom Großvater allnächtlich missbraucht, bleibt Saslaya nur die Flucht, die Suche nach ihrer Mutter im fremden Nachbarland.

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Blick zurück in die Zukunft durch die bunte Scherbe:
Sherlyn Paola Velásquez in „El camino“ (Foto: Berlinale)

Von ihren Eltern aus eigener Not verlassene Kinder sind in Nicaragua (und wohl nicht nur da in der „Vierten Welt“) an der Tagesordnung. Die Regisseurin Ishtar Yasin Gutiérrez hat für ihren Spielfilm „El camino“ („Der Weg“) jahrelang diese Problematik recherchiert. Nicht zuletzt deshalb wirkt ihr weitgehend dialogfreier Spielfilm sehr dokumentarisch und durchaus auch mit politischer Botschaft. Gleichzeitig lehnt sich Gutiérrez an das Genre des Road-Movies an – nur wird hier nicht über Highways gefahren, sondern durch die Slums und den Dschungel gewandert. Vielleicht sogar gepilgert. Das Gedicht „Peregrino“ („Der Pilgerer“) von Rubén Darío (1867-1916), dem lateinamerikanischen Symbolisten, wird im Film immer wieder in Ausschnitten rezitiert. Saslaya ist der darin vorkommende „gekreuzigte Schmetterling“, der die Flügel spreizt, um zu fliehen – zurück zur geflohenen Mutter. Dass sie eben diese Mutter nicht findet, ist das Vorwärts für ihr Leben.

Eine Reise zum Erwachsenwerden, aus der Illusion, den Kinderträumen, zurück und vorwärts in die Desillusion, ins wahre Leben also. Gutiérrez’ Regieleistung besteht darin, dass sie den verlassenen Kindern dennoch ihre Träume lässt, weil jeder Antrieb, sich der Realität zu stellen, aus einem (Kinder-) Traum resultiert. Oder anders gesagt: Wer nicht mehr träumen kann, macht sich auch nicht auf den Weg. Entsprechend sowohl realistisch dokumentarisch wie surreal verschroben inszeniert Gutiérrez die Flucht der beiden Kinder. Wie Wegweiser begegnen den beiden immer wieder Figuren wie aus dem Märchen: ein Puppenspieler, der sowohl die neue Welt entwirft, wie er sich als der Schatten des missbrauchenden Großvaters erweist. In seiner Entourage eine Frau, eine Art Fee, die Saslayas Mutter ähnelt. Ferner die Mitreisenden auf dem Weg, etwa zwei Männer, die einen Tisch, Symbol der heimischen Häuslichkeit, durch alle Wirrnisse der Flucht tragen, fast wie in einem Monty-Python-Film.

Ein Happy End gibt es nicht, eher ein offenes Ende. Saslaya hat auf dem Weg ihren Bruder verloren, das ihr anvertraute (innere, stumme) Kind, ihre eigene Kindheit, aber sie hat die Erwachsenheit, die Fähigkeit sich durchzuschlagen, gewonnen. Wie einst ihre Mutter, deren Flucht sie jetzt besser versteht. Der gekreuzigte Schmetterling, der davon flattert … zurück und also vorwärts. Ein poetischer Film, der gerade dadurch beeindruckt, wie er poetische Vision und dokumentarisches Abbild einer grausamen, unmenschlichen, dennoch in Mittelamerika alltäglichen Realität verbindet. Eine Vision für das richtige Leben im falschen und somit passend zum Anspruch der Berlinale, das „politischste“ Filmfestival der Welt zu sein. (jm)

El camino, Costa Rica / Frankreich 2008, 91 Min., 35mm. Buch, Regie, Produktion: Ishtar Yasin Gutiérrez, Kamera: Jacques Loiseleux, Mauro Herce, Darsteller: Sherlyn Paola Velásquez, Marcos Ulises Jiménez u.a.

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