57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007
Berlinale-Retrospektive 2007: City Girls. Frauenbilder im Stummfilm
Bubikopf, offensiver Blick, selbstbewusstes Auftreten und Berufstätigkeit prägen Image und Stereotyp jener Frauen, deren Mythos sich im Begriff der „Neuen Frau“ verdichtet hat. Das veränderte Rollenverständnis der Frau ist auch Ausdruck politischer Umwälzungen und gesellschaftlicher Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Retrospektive der 57. Internationalen Filmfestspiele Berlin, „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“, reflektiert die Darstellung dieses neuen Frauentyps im Kino.
„Die ’kleinen Ladenmädchen’, von denen Siegfried Kracauer sprach, die weiblichen Angestellten, waren eine neue soziale Erscheinung. Ihre Existenz war keineswegs gesicherter als die der Arbeiterinnen. Das Kino verklärte ihr Leben zwar meist, nahm es immerhin aber erstaunlich oft in den Blick. So verhießen die Filme Glück in der Ehe mit einem vermögenden Mann – und sprachen doch auch vom Alltag vor dem Happy End“, kommentiert der Leiter der Retrospektive, Dr. Rainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.
Schauplatz weiblicher Unabhängigkeit, Mobilität und Libertinage ist die Großstadt. In ihrem Lichterglanz reflektieren die Filme dieser Zeit Spielformen eines gesellschaftlichen Wertewandels. Rollenmodelle und Klischees der „Neuen Frau“ finden durch das Kino massenhaft Verbreitung: Die dämonisierte Verführerin der Jahrhundertwende weicht allmählich dem jugendlich-kecken Look des Girls. Herrenschnitt, schmale Hüften und flache Busen sind en vogue, Damenwahl und Charleston à la mode. Flapper flirten im Rhythmus des Jazz – das City Girl erobert die Leinwände.
Die Retrospektive versammelt unter den thematischen Überschriften „Working Girls“, „Flaming Youth“, „Husbands and Wives“ und „Fate and Passion“ insgesamt 30 Stummfilmprogramme. Populäre Schauspielerinnen schlüpfen als „Working Girls“ in die Rolle der kleinen Ladenmädchen und Bürofräulein: Norma Talmadge ist The Social Secretary (John Emerson, USA 1916), Clara Bow das It-Girl (Clarence Badger, USA 1926/27) mit dem gewissen Etwas. Jugendliche Unbekümmertheit – „Flaming Youth“ – ist Thema vieler Filme der Stummfilmzeit: Ossi Oswalda schert sich kein bisschen um gesellschaftliche Konventionen in Ernst Lubitschs turbulenter Komödie Ich möchte kein Mann sein (Deutschland 1918) und ist ebenso überschäumend-kapriziös wie die beiden britischen Serial-Heldinnen Alma Taylor und Chrissie White in Tilly’s Party (Lewin Fitzhamon, 1911). Dass Rollen- und Gesellschaftswandel Verunsicherungen in den Geschlechterbeziehungen („Husbands and Wives“) nach sich ziehen, erfährt sowohl Ljudmila Semjonowa in Abram Rooms Sozialstudie Tretja Meschtschanskaja (Bett und Sofa, UdSSR 1927) als auch Astrid Holm in Carl Theodor Dreyers Ehedrama Du skal ære din hustru (Du sollst deine Frau ehren, Dänemark 1925).
Die City Girls lassen sich nicht festlegen, probieren neue und legen alte Verhaltensweisen ab. Sie verführen, sind mondän, schillernd – und sind noch umfangen von Tragik und Dekadenz des Fin de siècle wie Nina Tschernowa in Jewgeni Bauers Sumerki schenskoi duschi (Twilight of a Woman’s Soul, Russland 1913) und Francesca Bertini in Assunta Spina (Gustavo Serena, Italien 1914). Verhängnis und Leidenschaft, „Fate and Passion“, sind die Koordinaten ihrer geheimnisvollen Leinwandaura. Dass dem Traum von einem selbstbestimmten Leben aber auch klare Grenzen gesetzt sind, zeigen viele Filme der Stummfilmzeit, so auch Mikio Naruses Melodram Yogoto no yume (Every Night Dreams, Japan 1933).
„Die Stummfilmzeit hat weltweit einen neuen Frauentyp auf der Leinwand propagiert, der bis heute für Modernität steht. In der aktuellen Debatte über Geschlechterrollen findet man zahlreiche Parallelen zur Emanzipationsdiskussion dieser Ära“, sagt Berlinale-Direktor Dieter Kosslick.
Die Filmvorführungen der Retrospektive finden im CinemaxX am Potsdamer Platz und im Zeughauskino statt. Das Buch „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“ mit filmhistorischen sowie kulturgeschichtlichen Essays, verfasst von Daniela Sannwald, Annette Brauerhoch, Heike-Melba Fendel und Fabienne Liptay, und der Katalog „FilmHeft 11“, der die Filme der Retrospektive mit zeitgenössischen Kritiken (dt. und engl.) und ausführlichen filmografischen Angaben dokumentiert, erscheinen im Berliner Bertz + Fischer Verlag. Die Retrospektive und die Begleitpublikationen werden von der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen verantwortet. Ergänzend zum Filmprogramm präsentiert die Deutsche Kinemathek auch eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Diskussionen.
(nach einer Pressemitteilung der Berlinale)