Treppenwitze der Geschichte
„5 Tage im Mai – Wie der 2. Weltkrieg in Kiel zu Ende ging“ (Kay Gerdes, D 2007)
Das geflügelte Wort vom „Treppenwitz der Geschichte“ ist hier mal buchstäblich: 61 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs steht der britische Veteran Major Tony Hibbert im Gebäude des heutigen schleswig-holsteinischen Landtags vor den Stufen, die in den alten Bau der ehemaligen Marine-Kommandantur führen. Genau hier sei es am 5. Mai 1945, „12 Uhr mittags“, gewesen, als er unbewaffnet das Gebäude betreten wollte, um Übergabeverhandlungen zu führen, und sich ihm der Dienst habende Stabsoffizier Kpt.z.S. Mohr mit zunächst gezückter Pistole entgegen stellte. „Wenn Sie jetzt schießen, wird das Unausweichliche nur verzögert“, habe Hibbert damals gesagt, der deutsche Offizier lachte und bald war man sich handelseinig, wie die „Festung Kiel“ an die Sieger übergeben werden könnte.
Showdown eines Krieges, den Nazi-Deutschland anzettelte und an dessen Ende zumindest die Kieler sich in die Hände gnädiger Sieger, ja, Gentlemen, ergeben. Kay Gerdes hat im „Imperial War Museum“ der Briten gestöbert und bisher nie gezeigtes Archivmaterial versammelt, um das seltsam unspektakuläre Kriegsende in Kiel zu dokumentieren. Ein Kriegsende als Verwaltungsakt mitten im Chaos der Auflösung staatlicher Ordnung und in einer sich mit Flüchtlingen aus dem Osten und mit anderen „Displaced Persons“ stetig füllenden Ruinenstadt. Die „5 Tage im Mai“ waren einerseits geschichtsmächtig, andererseits sind die Treppenwitze der Geschichte alltäglich unaufgeregte. Kiel zitterte damals wie die Briten vor der heran nahenden Roten Armee. Die Briten schienen den Besiegten die allemal bessere Besatzungs-Alternative – und der „Kalte Krieg“ um Einflusssphären im besiegten Deutschland hatte bereits begonnen. Tony Hibbert gehörte nicht zur regulären Truppe, sondern zur „T-Force“ mit Spezialauftrag, kriegswichtige Güter, Dokumente und Personen sicher zu stellen. Mit 350 Mann rückte seine Einheit am 1. Mai 1945 von Bremen aus nach Kiel vor, um den Russen zuvorzukommen. Am 4. Mai traf die Einheit im widerstandslosen Kiel ein, welche Jeep-Besatzung allerdings als erste die Stufen ins Rathaus erklom, lässt sich nicht mehr feststellen. Die provisorische Reichsregierung hatte aus ihrem Bunker in Flensburg bereits am 3. Mai dekretiert, dass man Kiel kampflos den Briten übergeben solle. So gab es, erinnert sich Hibbert in Gerdes’ aus rarem Archivmaterial und heutigen Interviews ganz klassisch geschnittenem Dokumentarfilm, auf dem Weg nach Kiel höchstens noch „ein paar brenzlige Situationen“ bei der Begegnung mit den Resten der in Auflösung befindlichen Wehrmacht, ansonsten Friede, Freude – nur leider keine Eierkuchen.
Die Vorhut der Besatzer – Panzer regulärer britischer Truppen rollten erst am 7. Mai über die Kieler Gablenz-Brücke – war so ratlos wie die Besetzten. Wie organisiert man nicht nur den eigenen Nachschub, sondern auch den für die Bevölkerung, die durch den Zustrom von Flüchtlingen zudem stündlich wuchs? Wie gestaltet man ein Kriegsende? Hibbert und seine Einheit hatten zunächst andere Aufgaben: Sicherung von Dokumenten in den Walter-Werken am Kanal, wo Hitlers Wissenschaftler an Geheimwaffen für den „Endsieg“ laboriert hatten. Ebenso Verhinderung der Sprengung der Holtenauer Hochbrücke und Besetzung des Holtenauer Flugplatzes mit nur einem Soldaten. Wo das Chaos perfekt ist, ist Geschichte ein „Imperfectum“, wie Gerdes in seiner Doku Stufe um Stufe auf dem Treppenwitz der Geschichte zeigt. Grotesk, absurd muten manche Wendungen in diesen Mai-Tagen 1945 an, was nicht an Gerdes, seinen Gewährsleuten oder den Dokumenten liegt, sondern an der Wirrnis der damaligen Zeit. Dass also vieles in Gerdes’ Film anekdotisch, unzusammenhängend, ja, wirr wirkt, mag man ihm daher nicht anlasten. Auch nicht, dass er die Zeitzeugen aus seinem weitaus instruktiveren Historiogramm „Kiel im Bombenkrieg“ „recyclet“, bzw. daraus geschnittenes Interview-Material verwendet hat.
Geschichte zu schreiben ist schwer, gerade da, wo sie so treppenwitzig unbeschriftete ist. Immerhin ensteht ein Eindruck von Zeiten, die so ungeordnet waren, dass nachgetragene Ordnung ein Stück weit Verfälschung wäre. Und immerhin stiftet das Chaos auch Hoffnung. Dass Hibbert und der deutsche Offizier mit Revolver auf der Marine-Kommandatur-Treppe am Ende „als Freunde“ auseinander gehen, ist kein Pathos, keine Ironie der Geschichte, sondern vielleicht die schönste Völker verbindende Botschaft von Gerdes’ Film. (jm)
„5 Tage im Mai – Wie der 2. Weltkrieg in Kiel zu Ende ging“, D 2007, 44 Min. Buch, Regie: Kay Gerdes, gefördert von der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Stadtarchiv Kiel, Imperial War Museum.
Im Kieler Verlag Ludwig (www.verlag-ludwig.de) erscheint Ende April Band 83 der Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte: Renate Dopheide, herausgegeben von Jürgen Jensen: „Kiel, Mai 1945 – Britische Truppen besetzen die Kriegsmarinestadt“ (160 Seiten, 60 Abbildungen, ISBN: 978-3-937719-58-0, EUR 29,80). Dem Buch liegt Kay Gerdes’ Film als DVD bei.
Der Film hat Premiere am Samstag, 5. Mai 2007, 19 Uhr im Kieler KoKi. Bei der Premiere wird auch das Buch präsentiert. Das KoKi zeigt den Film ein weiteres Mal am Sonntag, 6. Mai 2007, 18.30 Uhr (zusammen mit Kay Gerdes’ Dokumentation „Kiel im Bombenkrieg“).