Die Frau der dichten Bilder
Die Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen gilt als Institution im deutschen Dokumentarfilm. Im Rahmen des diesjährigen Hamburger Filmfests zeigte das Metropolis Kino das neue Werk von ihr und das einzige Werk über sie.
Die Kamera ruht auf dem roten Gesicht des Kneipenwirts, schwenkt langsam in den großen Aluminiumtopf auf dem Herd, beobachtet die blubbernde Soße, während im Hintergrund die Stimme des Wirts stolz die Zutaten seines Traditionsessens beschreibt: Schwarzsauer aus sieben Litern Schweineblut. Er taucht einen Löffel in den Sud, schiebt ihn links an der Kamera vorbei und fragt: „Schmeckt?“ Eine weibliche Stimme bejaht leise.
Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm „Der Wirt, die Kneipe und das Fest“, der kürzlich im Rahmen des Hamburger Filmfests im Hamburger Metropolis Kino lief. Durch das Kameraauge in Beziehung zu treten, das ist das Markenzeichen von Gisela Tuchtenhagen. Sie lässt sich ein auf die Protagonisten ihrer Dokumentationen, motiviert durch ein echtes Interesse an den Menschen und ihren Eigenarten. „Bei mir kann jeder so sein, wie er will. Ich stelle keine Szenen. Ich arrangiere mich mit dem, was kommt.“ Dieses Wartenkönnen auf den richtigen Moment, dieses Reagieren auf die Situation, dieses Erfassen von Stimmungen und die Verdichtung zum erzählenden Bild, dafür hat Gisela Tuchtenhagen etliche Auszeichnungen erhalten. Unter anderem den renommierten Adolf-Grimme-Preis in Gold für die Dokumentationen „Emden geht nach USA” und „Heimkinder”.
„Am liebsten würde ich an den Ehrungen nicht teilnehmen“, erzählt sie. Sie scheut das Rampenlicht. Auch im Metropolis Kino tat sie das. Ganze drei Sätze wollte sie sich bei der Vorstellung ihres neuen Films abringen. „Und eins ist klar: Die Idee stammt von der Co-Regisseurin und Cutterin des Werks, Margot Neubert-Maric“, betont sie. Sie redet wenig, doch die spärlichen Sätze fallen wie reife Äpfel. „Wenn ich alle so lasse, wie sie wollen, neigen sie sich mir zu. Das ist meine Erfahrung. Mit den Menschen in meinen Filmen, aber auch mit Tieren und Kindern“, sagt sie.
„Zuneigung“ lautet dementsprechend auch der Titel des Filmporträts über Gisela Tuchtenhagen von Quinka Stoehr, das das Metropolis im Anschluss an „Der Wirt, die Kneipe und das Fest“ zeigte. Tuchtenhagen willigte mit gemischten Gefühlen in dieses Projekt ein. „Die Gefilmte zu sein, das entspricht mir eigentlich überhaupt nicht, da zieht sich in mir irgendwas zusammen.“ Trotz ihrer Scheu, ihrer körperlichen Zurückgenommenheit und der Sparsamkeit an Worten, regt die fast 63-jährige zum Dialog an, auf einer subtilen, emotionalen Ebene. Vielleicht über ihren warmen, wachen und gerichteten Blick, bestimmt aber durch ihre Authentizität. Sie zeigt sich offen, mit allen Spuren, die ihr bewegtes Leben in den kleinen, zierlichen Körper eingeschrieben hat. „Meine Kindheit im Barackenlager bei Heide in Schleswig-Holstein war schön. Dann kam der Vater aus dem Krieg zurück, und alles wurde anders“, erzählt sie mit gehaltener Stimme. Die Familie wollte „nur nicht auffallen“. Gisela, jüngstes von fünf Kindern, passte nicht ins Konzept. Sie wehrte sich gegen die Nazi-Lehrer, flog von der Schule, ihre Eltern verfrachteten sie in die geschlossene Erziehungsanstalt in Salem. Anstaltskleidung, Gitter vor den Fenstern. Flucht nach Paris, in Hausschuhen. Nach vier Jahren Künstlerleben in einer Gruppe von Straßenmalern und dem Bruch mit ihrer ersten großen Liebe Phillipe kehrte sie nach Deutschland zurück. „Als ich aus Frankreich zurückkam, hatte ich das Gefühl, ich habe alles erlebt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte“, sagt sie. Damals, 21-jährig, versuchte sie sich umzubringen.
Eine Reihe von glücklichen Begegnungen, Zuneigungen im Tuchtenhagen-Deutsch, machten sie dann zur bekanntesten Kamerafrau Deutschlands. Wenn sie davon erzählt, klingt das so, als sei sie in ihre Karriere hineingestolpert. Zuerst in die Fotografieausbildung in Berlin. „Ich stand plötzlich vor der Schule und da bin ich rein, ohne, dass ich vorher jemals ein Foto gemacht habe. In der Aufnahmeprüfung tischte sie den Dozenten eine Geschichte auf, von einem Vater, der auch Fotograf sei. Sie bestand und entdeckte während der Ausbildung die Liebe zu den Bildern, zum Umgang mit Licht und Schärfe. „Fotos zu machen, das war mein Glück. Da hatte ich etwas, das ich anderen zeigen konnte“, sagt sie. „Und dieses Glück wollte ich für mich behalten und nicht für Zeitschriften fotografieren.“ So ging sie auf die Filmhochschule DFFB, wurde angenommen, obwohl sie die formalen Aufnahmebedingungen, Abitur und ein abgeschlossenes Studium, nicht erfüllte. Und schließlich, als gestandene Filmemacherin, erhielt sie mehrere Hochschuldozenturen. „Und das freut mich so“, lächelt Tuchtenhagen bescheiden, dass ich ohne Abitur oder eine besonders gute Allgemeinbildung eine Professur bekommen habe.“
Während ihres Studiums an der Filmhochschule verliebte sie sich in ihren Lehrer, den Filmemacher Klaus Wildenhahn. Mit ihm führte sie elf Jahre lang eine symbiotische Beziehung, in der die Liebe zueinander und die Liebe zum Filmen eins waren. „Als ich anfing, da existierte so ein Klischee vom Kameramann: Ich gehe Meilen weit für Camel Filter. Mir wurde davon abgeraten, diesen harten Männerberuf zu ergreifen. Begründung: Man müsse in manchen Situationen im Freien pinkeln.“ Daraufhin schrieb sie in der EMMA den Artikel „Am Pissen soll’s nicht scheitern“.
Als erste Frau schaffte Gisela Tuchtenhagen es in den 70er Jahren auf die Titelseite der Fachzeitschrift „Der Kameramann“. Wieder, ohne dass sie nach Ruhm und Aufmerksamkeit gestrebt hätte. Sie machte nur, was sie für richtig hielt, verzichtete auf gut gemeinte Ratschläge von Kollegen, entwickelte, aus dem Mainstream Lager kritisch beäugt, ihre eigenwilligen, erzählenden Bilder. Lange, beobachtende Einstellungen, teilweise zu Ungunsten von Bildschärfe und Belichtung. „Wenn man den Weg durchhält, dann ist man schon ganz viel geprügelt worden und hat es trotzdem gepackt“, resümiert sie. Sie habe sich ihre Projekte nie thematisch ausgesucht. „Mir sind die Sachen immer zugeflogen – man wählt eine. Eine, die im Inneren etwas zum Klingen bringt“. Immer wieder wagt sie sich mit hoher Sensibilität in gesellschaftliche Tabubereiche. Sie begleitete beispielsweise eine andere Filmemacherin bei deren eigenem Sterbeprozess und drehte die Dokumentation „Mein kleines Kind“ über die Geburt und frühen Tod des schwerbehinderten Sohnes der Hebamme Katja Baumgarten.
Filme machen, das ist nach wie vor ihr Leben. Und ihre beiden Söhne Christian und Alfredo. Sie hat Gisela Tuchtenhagen aus einem peruanischen Heim adoptiert und allein groß gezogen. Das erzählt sie wie nebenbei, so pragmatisch, so leise liebend, so genuin Tuchtenhagen. (Katrin Jäger)
„Der Wirt, die Kneipe und das Fest“, Dokumentarfilm von Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric, DV, 76 Min., D 2006. „Zuneigung – die Filmemacherin Gisela Tuchtenhagen“, Filmporträt von Quinka Stoehr, D 2006.