JazzBaltica 2006
Chaotische Cocktails mit Charakter
Podium der Alten und Jungen in der kleinen Konzertscheune
In der kleinen Konzertscheune hat man kurzfristig umdisponiert und so spielt ein alter Hase vor dem „jungen Löwen“. Ulrich Gumpert prägte seinerzeit die Jazz-Szene in der DDR als einer, der den Weg vom Rock (zurück?) zum Jazz fand. Das Chaotische, Unbändige des Rock merkt man ihm noch an, wenn er seine freejazzenden Clustertrauben in die Tasten drückt. Sekundreibungen und chromatische Themen sind sein Ding und dabei stehen auch die Quartett-Partner Ben Abarbanell-Wolff (sax), Jan Roder (b) und Michael Griener (dr) nicht nach.
Wobei sie auch den „counterpart“ liefern, denn wo Gumpert die Tasten akrobatisch malträtiert, wirkt Roders Bass wie ein Ruhepol und -puls, der stoisch das Fundament abschreitet. Und auch Abarbanell-Wolffs Sax ist zwar so unruhig wie Charlie Parkers Horn, gleichwohl hat solche Flatterhaftigkeit stets Bodenhaftung. Sollen wir sagen: „gediegen“? Besser nicht, „übersichtlich“ ist die bessere Formulierung. Und damit auch die gelingende Quadratur des Kreises, nämlich dem Chaos Charakter zu geben. „Blue Circles“ heißt so ein Stück, das die Phrasen auf zwei Takte beschränkt und so einerseits beständig quirlig erscheint, andererseits die gestylte Konstruktion bei aller Freejazz-Attitüde durchblicken lässt. Das Unscheinbare nimmt hier Gestalt an, manchmal allzu deutliche.
Zeitreise zur Nils Wülker Group: Wo die Alten ihr Aufbegehren wie eine Revolution aus der vergangenen Retorte zaubern, sind die Jungen mit den Idiomen des Urban Culture Pop Jazz (wenn es denn sowas gibt) vertraut. Finstere Jazzkeller, zumal die einstmals hinter dem eisernen Vorhang, sind den pastellfarben lichten Lounges gewichen. Solche Befreiung wirkt bei Nils Wülker (tp) und seiner Group vergleichsweise gefällig, nah, aber auch nicht zu nah am Pop. Ein Streichquartett ist zudem Garant für jenen Sound, der zwischen Jazz und Bar vermittelt, im Cocktail des „anything goes“. Allein, dieses „anything“ geht hier wie geschnitten Brot, also sehr gut. „My Game“ heißt entsprechend zutreffend ein Stück, dessen Tune so schön ist, dass er unisono zelebriert werden muss, bevor man sich mit gespielter Schrillheit auseinander setzt. Das Chaos ist hier ganz dem Charakter gewichen. Das mag man beklagen, aber ebenso genießen. Torun Eriksen leiht dazu die Stimme, die im weiblichen Jazzstimmlager inzwischen Legion ist: ja, charakteristisch, ja, eigensinnig, aber ja – auch allzu ambitioniert auf Purismus zielend. Manche Silben lässt sich Eriksen so sehr auf der Zunge zergehen, dass sie sich fast daran verschluckt. So gut schmecken Cocktails, wenn man sich auch den rauen Whisky dazu manchmal gewünscht hätte. (gls)