JazzBaltica 2006
Am Puls der Pianos
Die PianoAcademy zeigte Tendenzen auf den Tasten
Nach neun Stunden Piano satt ist man als Hörer eigentlich nicht mehr aufnahmefähig. Aber wenn Stefano Bollani und der Trompeter Enrico Rava als achter von neun Acts in JazzBalticas PianoAcademy aufspielen, geht am späten Sonnabend nochmal ein Knistern durch die Kleine Konzertscheune.
Dass der europäische Jazz längst nicht mehr nur ein Echo der Innovationen jenseits des großen Teichs ist und dass vor allem die jungen Talente in solches Neuland voraus tasten, sind nur zwei Ergebnisse dieses Überblicks zeitgenössischer Piano-Pulse. Bollani hatte schon am Nachmittag im Hauptprogramm bewiesen, dass zwar nicht der Hard Bop selbst, aber sein unruhiger Geist wieder auf der Tagesordnung steht. Wie eine bewusst verstolperte Spieluhr zerlegt Bollani einen Boogie in seine Bestandteile, während Rava darüber eine Trompete bläst, die Miles Davis eher an seine mittleren, denn seine späten Tage erinnert hätte.
Dass hippeliger Bop und lyrisch mäandernde Bögen bestens zusammenpassen, kitzelt Michael Wollny aus dem Flügel. Auf flirrende Ostinati baut der junge Würzburger pianistische Luft- und Lustschlösser, wobei manche holzschnittartige Hütte sich als Palast entpuppt und umgekehrt, wenn Wollny solche Spannung in Freejazz-Zwischenspielen entlädt. Mit ähnlichem Messer schnitzt Carsten Daerr an Ebenholz und Elfenbein. Nicht nur, wenn er als Wollnys Überraschungs-Duo-Gast buchstäblich mit der Hand in die Klaviersaiten greift, auch in seinem Trio (Henning Sieverts, b/cello; Bastian Jütte, dr). „Germany 12 Points“ heißt seine Hommage an Ralph Siegels Schlager und führt vor, wie man aus „Ein bisschen Frieden“ Groove-Gefechte destilliert, Siegels Erfolgsband Dshingis Khan auf den Ritt durch die Reggae-Steppe schickt und in Eigenkompositionen Eric Saties Geist für Satyrspiele nutzt.
Freilich haben solch’ satirisches Moment auch schon die Älteren auf die Tastatur gebracht. 74 Jahre hat der Schweizer Bandleader und Pianist George Gruntz auf dem Buckel, massiert das Klavier aber immer noch (oder schon wieder) so frisch wie die Enkelgeneration. Gruntz wildert für sein Zitat-Universum jedoch eher bei den Klassikern. Gershwin schimmert durch, Monk und auch Mozart, wenn der kecke Eidgenosse dem Pianojazz „verbindende Gelenke und Gestänge“ einbeschreibt, dort wo er Scharniere zwischen Old School und Young Lions erspürt.
Geradezu als Traditionalist erscheint dagegen der junge Pole Marcin Wasilewski mit seinen still entrückten Grübeleien auf einem Piano, das nur selten mal forte wird. Dann aber mit der Kraft zum Querständigen, das die blinzelnden Perlschnüre mit einem Akkord zerreißen kann. Gleichwohl, er bleibt der schwelgende Lyriker, ein Gottfried Benn des Pianos.
Ähnliches könnte man Brad Mehldau, dem „artist in residence“ der JazzBaltica 2006, nachsagen. Allein, sein polyphoner Duktus, der ihm den Ruf eintrug in direkter Nachfolge Bill Evans’ zu stehen, ist gleichsam erhaben über stilistische Zuweisungen, denn er lässt sich auch auf Songs von Lennon/McCartney anwenden, ohne bloß zitierend zu wirken. Mehldau ist das Paradebeispiel der PianoAcademy für einen weiteren Trend beim Jazzpiano: der heißt Persönlichkeitsstil, der unverwechselbar eigene Puls am Piano. (jm)