Leerstellen für das Hören
Das Symposion „acoustic turn“ entdeckte in Salzau den Hörsinn neu und wieder.
„Das Hörbare wird übersehen“, bringt es Prof. Dr. Petra Maria Meyer, Intendantin des Forums der Muthesius Kunsthochschule, in ihrem Eröffnungsvortrag zum viertägigen Symposion „acoustic turn“ auf den sprachspielerisch synästhetischen Punkt. Unter dem Primat des Optischen, des „distanzierten Auges“ werde das Ohr, der „Mittler zwischen Innerem und Äußerem“, von der Kunstwissenschaft oft vergessen. Im Landeskulturzentrum Schloss Salzau hatten sich auf Einladung des Forums der Muthesius Kunsthochschule (finanziell unterstützt vom Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein) vom 4. bis 7. Mai 2006 künstlerische wie theoretische Koryphäen versammelt um das zu ändern.
An der Stimme als „basalem Medium“ macht Petra Maria Meyer deutlich, wie entscheidend der Hörsinn die Entwicklung der Künste geprägt hat. Stimme sei dabei immer schon „multimedial, synästhetisch“ gewesen, denn sie ist eng mit der Körperlichkeit des Menschen verbunden, wird im sprachlichen Ausdruck stets zusammen mit taktilen Gesten verwendet, verrät die „Stimmung“ des Sprechenden. Aber selbst wenn diese anderen Sinneseindrücke wegfallen, wie etwa beim Sprechen über Telefon, bleibt der Stimme doch ihr eindringlicher, Nähe schaffender Charakter, die „Spur des Körpers“. So basal, archetypisch und körperlich die Stimme als Medium ist, so umwälzend waren die kulturellen Veränderungen, als die Sprache Ende des 19. Jahrhunderts in die Krise geriet. Sprache und Schrift entsprechen nicht mehr der Erfahrung einer durch den technischen Fortschritt veränderten Welt. Doch aus der Krise wird ein Gewinn, indem die Stimme „aus der Ökonomie des Sagens ausbrechen“ kann, zum künstlerischen Gestaltungsmaterial wird. Dass sich zeitgleich die damals neuen Stimm-Medien Telefon, Grammofon und Radio entwickeln, ist für Meyer kein Zufall. Ein „acoustic turn“, der zurückführt zum Leiblichen der Stimme, zu Klang statt Logos.
Genau mit dieser klanglichen, nicht unbedingt logischen Funktion der Sprache und Stimme spielt auch der Kieler Lyriker Arne Rautenberg. Die Muthesius-Absolventin Anabel Lammers hat ihm dafür mehrere Außenbühnen im Salzauer Schlosspark geschaffen. In der Grotte vermischt sich die „Soundscape“ der Natur mit der in Rautenbergs rhythmischen, stets auch musikalisch gedachten Versen. „Hinter dem Stern ist ein Stern, hinter dem Sturm ist ein Sturm“, lautet es darin und dazu weht der Wind durch die Äste der Bäume im Park und wirbelt kleine Zettelchen mit Versfragmenten, die auf dem Waldboden verstreut sind. Das Wort im Wind, klingend statt bloß sagend, „anzubewortend die Frafra“, wie Rautenberg die Silben durcheinanderschüttelt, bis sie neuen, akustisch-haptischen Sinn bekommen.
Innen und Außen, der Hörsinn als Mittler dazwischen, sind auch das Thema von Nan Hoovers Video-Klang-Installation „Sonnenuntergang – Schloss Salzau“, die sie auf Einladung des Muthesius-Forums und der Kieler Stadtgalerie, der sie das Salzauer Werk schenkte, speziell für den „acoustic turn“ kreiert hat. Den Blick vom Eingang des Schlosses über die Terasse auf den Teich im Park und die Bäume, die sich darin spiegeln, hat Hoover gefilmt und spielt das Video auf drei Monitoren leicht zeitversetzt ab. „Bewusst habe ich dabei den Ton weggelassen“, sagt Hoover. Das Akustische hat sie „ausgelagert“ in drei Soundboxen, die von Bewegungssensoren und damit den Körpern der Betrachter gesteuert den Klang von Wind, Wasser und Vogelzwitschern in den Innenraum „projizieren“. Ein „Stillleben“ der Natur, „konserviert und doch interaktiv performiert“, so Hoover. „Wir brauchen solche Orte der Stille, die doch klingt, Bilder, die sich anders als im Staccato-Medium Fernsehen kaum merklich verändern. Wir müssen der Zeit Zeit lassen.“
Zeit zum Zuhören – Klang und Stimme als Orts- und Zeitbestimmung und „Mittler zwischen Immanentem und Transzendentem“ spielen ebenso in der Radio-Komposition „Quasi una missa“ des irischen Komponisten Frank Corcoran eine zentrale Rolle. Die Musik seiner Heimat ist fast ausschließlich Volkskunst, nicht notiert, und somit ursprünglich akustisch. Corcoran hat die Scat-artigen rhythmischen Gesänge, mikrotonal ornamentierte „Laments“ und geistliche Wortfragmente aus 2000 Jahren irischer Geschichte zu einer „babylonischen“ Klangcollage verarbeitet, die er in der Form der vier Hauptsätze einer Messe, Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei, organisiert. Die Stimme wird hier zur Bestimmung, zum Kontaktmedium zum Transzendenten und bleibt doch so sinnlich erfahrbar, dass man solchem „acoustic turn“ geradezu bewusstseinserweitert nachlauscht.
Wie die praktische Umsetzung eines der Ergebnisse des viertägigen Symposions wirkt in der Abschlussveranstaltung die muskulär multi-sensuelle Entgrenzung, die der britische Tänzer Nigel Charnock in seiner Performance „Fever“ auslebt. Am Ende ist er fast nackt, Schweiß gebadet, atemlos, hat in unterschiedlichsten Zungen gesungen, geredet, gegurgelt, geschrien, sich geräkelt und verrenkt und resümiert: „It’s the little things that matter!“
Nicht im großen Entwurf scheint die Kunst auf, vielmehr im bewusst und in doppeltem Wortsinn „un-bedeutenden“ Kleinen, an den „Leerstellen“, wie es der Musikhistoriker Martin Zenck in seinem Vortrag über die Rolle der Filmmusik bei Buñuel, Godard, Pasolini und Tarkovskij nennt. Und in einem Sinn, den Kunst wie Wissenschaft lange vernachlässigt haben: dem Gehör. Der Titel „acoustic turn“ ist da programmatisch zu verstehen, ohne dass die bisherige Dominanz des Sehens durch eine neue des Hörens abgelöst werden sollte. Worum es den künstlerischen Praktikern und Theoretikern in Salzau ging, ist die Synästhesie jeglicher Wahrnehmung im ganzheitlichen Zusammenspiel der Sinne – auch mit der Körperlichkeit des Leibes. Wenn Nigel Charnock den Tanz und seine lautlichen Begleiterscheinungen, verstärkt von den Multiinstrumentalisten Jean-Pierre Drouet und Michael Riessler, ins leibhaftig brüllende Leben transzendiert, scheint die schmerzliche Schwelle zwischen Kunst und Leben aufgehoben, weil sich beide an den Leerstellen ereignen und vereinigen. Die Wahrheit liegt offenbar im Paradox – wie in Wolfgang Rihms Filmmusik „nicht zu, sondern über“ Buñuels „Un chien andalou“, die laut Zenck „in ihrer Absenz präsent“ ist, nicht als bloß funktionale Untermalung des bewegten Bildes, sondern als eigenständige, kontrapunktische „Übermalung“.
Anti-mimetisch, anti-semantisch, nicht bebildernd und „befreit von der Fessel des bedeuten Müssens“, nennt die Wissenschaft solche Konzepte, die die Moderne schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfand. So beschäftigten sich viele Vorträge mit der historischen Nachzeichnung der Brüche, die klassische und jüngere Avantgarde (letztere in Hauke Harders Vortrag über die stilbildende Arbeit von zehn Jahren „Gesellschaft für akustische Lebenshilfe“ in Kiel) vollzogen, weil die mimetische, Welt in Kunst abbildende Ästhetik früherer Epochen mit dem Jahrhundertwechsel in eine Vertrauenskrise geraten war. Eine Krise, die 100 Jahre danach anhält, wie der Musik-Soziologe Michael Altrogge und Andreas Wang, bis vor kurzem Hörspiel-Chef beim NDR, aufzeigten. Letzterer konstatiert im Rundfunk einen „Druck des Aktuellen“, der es trotz Hype von Hörbuch und Podcast (freie Radios im Internet) schwer mache, „auf Klangdifferenzierung zu bestehen, wenn das Publikum immer nur das große Panorama erwartet“. Dass „Kunst und Kultur nicht mehr deckungsgleich“ sind (Wang), bestätigte auch Altrogge beim Blick auf die Jugendkulturen, deren „Musik woanders spielt“, nämlich nicht im Radio und auf den Major-Plattenlabels, die das ewig Gleiche perpetuieren, sondern in den Nischen des Netzes.
Wo die Medienmacher in der postmodernen Krise stecken, sind ihre Zulieferer, die Künstler, in der gleichen Situation wie ihre modernen Vorfahren zu Zeiten von Dada und Lautpoesie. Gerhard Rühm, ein Veteran der schon historischen Innovation, das Wort vom Sinn zum Laut zu befreien und ihm dadurch neuen Sinn und Sinnlichkeit zu geben, wirkte in seiner Präsentation von Laut- und Simultangedichten (vorgetragen zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Monika Lichtenfeld) freilich frisch wie nie. Die alte Moderne bleibt neu, solange sie noch nicht eingelöst ist. Auch Christina Kubischs „electrical walks“ sind am Puls der Theorie der Leerstellen des Hörens, weil sie per Elektromagnetismus hörbar machen, was im Stadtraum überall summt, pfeift und brummt, ohne dass jemand diese „Alltagsmusik“ bisher gehört hätte. Die kalte Physik wird hier zur Hörkunst wie in Markus Trunks Klanginstallation „slightly ajar“, die die Türen im Salzauer Herrenhaus zum Modulator für Sinusschwingungen mit erstaunlich schwebenden Effekten macht. Nicht minder instruktiv sind die Bild-Klang-Grenzüberschreitungen in Installationen der Muthesius-Studentinnen Angelika Waniek, Antonia Kühn und Julia Wolf, Antje Feger, Bethania Adis sowie der künstlerischen Mitarbeiter Sven Lütgen und Matthias Meyer, die Walter Kempowskis kollektives Geschichtsraunen „Echolot“ in einen eindringlichen Hör-Bild-Raum transformieren.
Das bundes-, wenn nicht europaweit wohl einmalig künstlerische Praxis und Theorie rund ums Hören so vielfältig verdichtende Symposion „acoustic turn“ hat Wege aufgezeigt, welche die Plöner Installationskünstlerin Natascha Bindzus mit dem treffenden Wort „höret, so werdet ihr sehen“ umschrieb. Dass eine Künstlerin, die just in Salzau schon 1997 ähnliches versuchte, hier unberücksichtigt blieb, mag man als Versäumnis sehen, dem „acoustic turn“ wird das seine Wirkmächtigkeit auf die künstlerische wie wissenschaftliche „Community“ nicht entziehen. (jm)