56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Nabelschau im Nebel

„Lenz“ (Thomas Imbach, Schweiz/D 2006)

1839 veröffentlichte Georg Büchner seine Erzählung „Lenz“, ein Psychogramm mit durchaus auch wissenschaftlichem Interesse über den Sturm und Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), dessen zunehmendes Abrutschen in den Wahn sein „Pfleger“, der Pfarrer Oberlin, in einem Tagebuch niedergelegt hatte, das Büchner als Quelle diente. Dr. Johannes F. Lehmann schreibt unter www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/hermeneutik/buech_lenz.htm über Büchners „Lenz“: „Die Erzählung „Lenz“ ist ein Text mit auf der Handlungsebene gleichsam abgeschnittenen Rändern, der ein intensives Konzentrat von Innenansichten liefert, die gleichwohl von Außen, mittels Bildern und Vergleichen, erzählt werden. Die immer wieder auftauchende Formel dafür lautet: Es war ihm als ob …: „Es war ihm alles so kein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen“; „Es war als ginge ihm was nach“; „Es war ihm als sei er blind“; „Es war ihm als müsse er sich auflösen“ usw. Dadurch wird der Wahnsinn nicht als das Andere der Normalität, sondern als Grenzwert jeden menschlichen Erlebens gefasst.“ Und das trifft ziemlich genau den Gestus des Films, den Thomas Imbach aus dem Lenz-Stoff destilliert hat.

In einem gebirgigen nächtlichen Nebel wankt schemengleich sein Lenz (Milan Peschel) durch die Alpeneinöden bei Zermatt, im ganzen Film begleitet von Shots des Matterhorns unter verschiedensten Wetter- und also Seelenbedingungen. Lenz ist bei Imbach kein Dichter, sondern Filmemacher, der nach den Höhen und vor allem Tiefen seiner gescheiterten Beziehung zu Natalie (Barbara Maurer) und ihrem gemeinsamen Sohn Noah (Noah Gsell) in den Bergen (bei Büchner sind es die Vogesen, hier die Alpen) zu seinen inneren Bildern zurückfinden will. Lenz ist Filmemacher und hat – so Imbachs Inszenierung – die semidokumentarische DV-Kamera sozusagen immer im Gepäck. Imbach beobachtet Lenz, aber eigentlich beobachtet sich Lenz selbst mit der Kamera, seziert seinen Wahn und macht dabei auch intrinsische Aufnahmen von der zerbrochenen Familie, denn Natalie und Noah besuchen ihn in der gebirgigen Einsiedelei mitten im Touristengetümmel von Zermatt. Es scheint, als könne es nochmal klappen mit dem Familienprojekt, denn Lenz liebt Natalie immer noch, mehr noch aber seinen Sohn, den er zurückgewinnen möchte. Vergeblich, immer wieder übermannt ihn sein Wahn, Fantasien von Selbstmord, wenn er bei zahllosen Minusgraden fast nackt durch den Schnee rennt oder den Kopf bis zur körperlichen Erschöpfung ins Eiswasser taucht.

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Barbara Maurer, das ewige Matterhorn und Milan Peschel in „Lenz“ (Foto: Berlinale)

Ein Mann, ein Künstler auf Abwegen und sich derer sehr bewusst, denn selbst das ist Inszenierung des poetischen Selbst. Die Kunst, das Filmemachen selbst erscheint Lenz als der Wahn, der ihn vom Leben entfernt. Und so ist Imbachs Film nicht zuletzt einer über das mimetische Problem, dass nämlich Abbildung vom Abgebildeten, dem Leben entfernt. Imbach treibt das so weit auf die Spitze, dass er in einem eigentlich überflüssigen – denn die Bilder haben es schon gesagt – Erklärdialog Lenz darüber nachsinnen lässt, dass er keine Filme mehr „über gesellschaftliche Probleme“, sondern „nur noch über sich selbst“ machen könne. Ein Künstler (eindringlich abgründig in Szene gesetzt von dem hervorragenden Milan Peschel) so sehr gefangen in der Kunst, dass er dem Leben abhanden kommen muss.

Der von den eigenen Nebelkerzen des Lebens als regiehafter Inszenierung erzeugte Nebel verdichtet sich. Immer abwegiger, verschrobener werden Lenz’ Traumgebilde, immer deutlicher wird, dass die verwackelten DV-Dokumentarismen vom „echten“ Leben der Familie, der letzte Versuch, dies mit den Mitteln der ihn verfluchenden Kunst zurückzugewinnen, ihm unter den filmenden Händen verrinnen. Lenz verschwindet ganz im Wahn. „So lebte er hin“, der Schlusssatz aus Büchners Erzählung steht auch am Ende des Films wie ein Menetekel einer schonungsloser, als es ein immerhin ein Ergebnis erzeugender Selbstmord vermöchte, ins Nichts führenden Nabelschau.

Imbachs Adaption des Lenz-Stoffes verstört, wie Lenz ein Verstörter ist, und stellt mit dem ebenso intelligenten wie zuweilen grotesk erscheinenden Mix aus „Realität“ und „Fiktion“, aus Beichten und Erzählen das Filme oder Kunst Machen selbst in Frage. Ein Essay über den ewigen Zwist zwischen Kunst und Leben, die beide nicht ohne einander können, der bestürzend wahr überzeugt, mitten im Nebel, mitten aus dem Nabel. (jm)

Lenz, Schweiz/D 2006, 96 Min., 35 mm/DV. Buch/Regie: Thomas Imbach
, Darsteller: Milan Peschel, Barbara Maurer, Noah Gsell u.a.

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