47. Nordische Filmtage Lübeck
Skandinavische Spielfilme auf der Höhe der Zeit – Finanzierung des Festivals in Nöten
Alles schien wie immer, „der Laden brummte“ auf den 47. Nordischen Filmtagen Anfang November in Lübeck. Über 18.000 Besucher an vier Tagen wussten einen besonders starken Jahrgang der skandinavischen Filmproduktion zu würdigen. Einfach unglaublich, was für einen qualitativ und quantitativ hohen Output unsere nördlichen Nachbarn in den letzten Jahren zu Stande bringen. Bewunderungswürdig, besonders wenn man das in Relation zur Bevölkerung und Finanzkraft setzt. Davon kann die deutsche Filmbranche nur träumen.
Doch Sorgenfalten gab es schon, und diese betrafen die Finanzierung dieses doch so erfolgreichen Filmfestivals, das sowohl nach Aussagen aller kulturell und politisch Verantwortlichen wie wohl auch des sehfreudigen Publikums ein unverzichtbares Highlight mit großer überregionaler Strahlkraft im jährlichen Kulturprogramm von Schleswig-Holstein darstellt. Der NDR, Hauptsponsor der Nordischen Filmtage der letzten Jahre, hat dem Festival seine direkte finanzielle Unterstützung, die mit 75.000 Euro 15 Prozent des Gesamtetats ausmachte, gestrichen. Die in den Augen der Senderverantwortlichen zu geringe Erhöhung der Rundfunkgebühren liefert die Begründung dafür. Dieses Jahr konnte diese Finanzierungslücke der „Nordischen“ noch durch die Possehl-Stiftung geschlossen werden. Doch für nächstes Jahr bleibt vorerst nur die Hoffnung auf weitere Sponsoren, von denen aber bisher niemand zu entdecken ist, und der Wille zum Sparen bei der Stadt Lübeck und dem Festival-Team.
Wie gespart werden soll, wurde bisher von der Lübecker Kultursenatorin Borns nur sehr vage und unbefriedigend beantwortet. Es solle weniger Empfänge geben, meinte sie z.B. Eine nur vordergründig betrachtet wirklich greifende Idee, wenn man bedenkt, dass die großen Empfänge größtenteils bisher von anderen als dem NDR finanziert wurden: Nordische Filminstitute, MSH und die Stadt Lübeck im Konzert mit Radisson Hotel machten bisher diese möglich. Die zweite Idee, man müsse die Zahl der Gäste reduzieren, die „überall rein“ kämen, wirkt eher wie ein Vorschlag von jemandem, der über Filmfestivalpolitik und gängige Öffentlichkeitsarbeit in diesem Bereich wenig Kenntnisse zu haben scheint oder sich Illusionen hingibt. Will man etwa mit hohen Akkreditierungsgebühren oder Kaufkarten das Fachpublikum, von dem die Nordischen Filmtage in nicht geringem Maße profitieren, verschrecken? Da bleibt schon eher die noch unbestimmte Hoffnung von Festival-Leiterin Linde Fröhlich auf weitere Förderer aus der Wirtschaft. Sonst werden höchstwahrscheinlich die Nordischen Filmtage im Programm ganz einfach schrumpfen müssen, was sehr bedauerlich wäre.
Dieses Jahr konnte jedenfalls noch einmal aus dem vollem geschöpft werden. 130 Filme aus Skandinavien, dem Baltikum und Schleswig-Holstein boten viel Anlass zu angeregten Diskussionen und ausgezeichnete Kinounterhaltung. Ein herausragendes Thema, welches in vielen Filmen dieses Jahr behandelt wurde, war die Familie mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Die schwedischen Filme „Harrys Töchter“ von Richard Hobert und „Dalecarlians – Liebe ist nicht genug“ von Maria Blom führen klassische Familienkonflikte vor, bei denen die rettende Aussprache die persönlichen Katastrophen nur zum Teil heilen kann, weil sie zu spät kommt. Die Neurosen einer introvertierten Gesellschaft, in der Verschwiegenheit immer noch eher den Tugenden zugerechnet wird, fordern ihre Opfer.
In „Homesick“ (auf den „Nordischen“ mit dem Kirchlichen Filmpreis Interfilm geehrt) vom finnischen Regisseur Petri Kotwica wird der 17-jährige Sami (Julius Lavonen) nach einem Selbstmordversuch in ein Heim der Jugendpsychiatrie eingewiesen. Die Scheidung seiner Eltern und besonders seine Mutter (Tarja Heinula), die damit überhaupt nicht zurechtkommt und somit, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, eher ein Fall für die Psychiatrie ist als ihr Sohn, haben bei Sami zu solch einer seelischen Desorientierung geführt, dass er das Heim der Außenwelt vorzieht und lieber dort bleiben möchte. Mit einer geschickt angelegten, die spannende Dramaturgie unterstützenden Zeitstruktur mit Rück- und Vorblenden, einer überzeugenden Kamera (Harri Räti) und einer spezifischen Farbgestaltung der einzelnen Ebenen gelingt es dem Film, ein schwieriges Thema eindringlich zu beleuchten. Kotwica zeigt eine Gesellschaft, die es erst wieder lernen muss, den einzelnen nicht in Haltlosigkeit und Isolation allein zu lassen. Ohnmacht mündet hier in Inzest und Gewalt, bevor sich eine Lösung andeutet.
Haltlosigkeit und Isolation: Julius Lavonen in „Homesick“ (Foto: NFL)
Der finnische Film „Beste Mutter“ von Klaus Härö nimmt sich des Themas der mehr als 70.000 finnischen Kriegskinder an, die im Zweiten Weltkrieg aus Finnland nach Schweden evakuiert wurden und dort auf Zeit mit „neuen Eltern“ zurecht kommen mussten und diese mit ihnen. Erzählt wird die Geschichte des 9-jährigen Eero (Topi Majaniemi), dessen Vater an der russischen Front fällt und dessen Mutter (Marjaana Maijala) ihren Sohn weg vor den Kriegswirren ins sichere, weil neutrale Nachbarland schickt. Von einem Bauernehepaar aufgenommen wird er hier in der Fremde nur schwer heimisch. Der Landessprache nicht mächtig und von der Ersatzmutter nur äußerst widerwillig akzeptiert, plagen ihn Heimweh und Sehnsucht nach seiner Mutter. Erst als er erfährt, dass sich diese einem deutschen Offizier zugewendet hat und mit diesem in dessen Heimat ziehen möchte, beginnt er um die Zuneigung seiner „neuen“ Mutter Signe (Maria Lundqvist) zu kämpfen. Signe ist über den Tod ihrer eigenen Tochter durch Ertrinken nicht hinweggekommen und quält sich immer noch mit ihrer eigenen möglichen Verantwortung und Schuld. Als sie die Nöte des alleingelassenen Eero erkennt und begreift, siegt ihr Herz. Auf einem behutsamen Weg kommen Eero und Signe einander näher und lernen einander lieben. Einfühlsam und berührend schildert Härös Film die emotionalen Schwierigkeiten eines durch den Krieg hin und her gerissenen Jungen, der mit der traumatischer Erfahrung zu recht kommen muss, dass ihn seine Mutter nicht mehr zu lieben scheint, und die seelischen Verwundungen einer Frau, die durch ein neues Mutterglück vergangenes Unglück zu überwinden lernt. Auch hier gibt es ein klärendes Gespräch zwischen Eero und seiner wirklichen Mutter erst sehr spät, nämlich Jahrzehnte danach. Eero muss erkennen, dass seine Mutter sich letztlich für ihn entschieden hat und nicht für den deutschen Soldaten.
Heimat- und mutterlos in der Fremde: Topi Majaniemi in „Beste Mutter“ (Foto: NFL)
Der Film gerät trotz seines Themas und seiner erzählerischen Nähe zu dem kleinen Jungen und dessen Nöten nie in Rührseeligkeit, Sentimentalität oder Kitsch, sondern nimmt durch eher zurückgehaltenes Temperament für sich ein. Da war es keine Überraschung, dass er neben dem Baltischen Filmpreis auch den Publikumspreis der Lübecker Nachrichten gewann.
Auch die Ärztin und Mutter Victoria (Annika Hallin) muss in dem norwegischen Film „Kuss des Winters“ mit Schuld und Verantwortung zu recht kommen. Gefühlvoll lotet Regisseurin Sara Johnson in ihrem Debütfilm die Befindlichkeit im Erkenntnisgang der Hauptperson aus. Victorias 12-jähriger Sohn bricht völlig überraschend beim Eishockey zusammen und stirbt. Meist saß er zuvor lust- und kraftlos in seiner Freizeit vor dem Fernseher. Seine Mutter zwang ihn zu sportlichen Aktivitäten und erkannte nicht, dass die Ursache für sein Verhalten nicht in mangelnder Kondition sondern in einer Leukämie-Erkrankung lag. Von Schuldgefühlen geplagt trennt sie sich von ihrem Mann und zieht sich in die norwegische Provinz zurück. Dort wird sie mit einem Beinahe-Krimminalfall konfrontiert. Kurz vor Weihnachten wird ein junger Mann tot am Straßenrand im Schnee gefunden. Die Polizei verdächtigt den Schneepflugfahrer Kai (Kristoffer Joner), den Sohn muslimischer Immigranten Darjosh (Jade Francis Haj) durch Unachtsamkeit getötet und anschließend Fahrerflucht begangen zu haben. Für Victoria, die bald mit Kai eine Liebesaffäre beginnt, ist diese Erklärung zu einfach. Im Laufe der Ermittlungen und Victorias eigenen Nachforschungen wird ein Suizid aus Liebeskummer als Erklärung von Darjoshs Tod immer wahrscheinlicher. Seine geliebte Freundin sollte im Heimatland an einen anderen verheiratet werden. Und die Eltern von Darjosh wollten diesen nicht nach Hause zurückkehren lassen. Für Victoria bringt dieses tragische Schicksal in seinen Erklärungen von Schuld und Schuldlosigkeit schließlich eine Klärung ihrer eigenen Position zu ihrem gestorbenen Sohn und zu ihrem Ehemann. Wie die Eltern Darjoshs trug sie Verantwortung, aber es trifft sie keine Schuld.
Schuld und Verantwortung: „Kuss des Winters“ (Foto: NFL)
Wie in allen zuvor besprochenen Filmen offenbart sich auch hier im Ausloten der privaten Geschichte die gesellschaftliche Situation, die viele Entscheidungen des einzelnen bedingt. Die viel gepriesene skandinavische Wohlfahrtsgesellschaft, die die Fürsorge für den einzelnen garantieren soll, offenbart wie schon so oft ihre Schwächen und Opfer. Die Filme zeichnen diesen Befund nach, analysieren ihn und sind somit auf der Höhe ihrer Zeit. (Helmut Schulzeck)