47. Nordische Filmtage Lübeck

Das Grundgesetz nicht angeschaut

„Die Nacht der großen Flut“ (Raymond Ley, D 2005)

„Man hat im Kriege vielerlei große Scheiße erlebt, aber man hat auch gelernt, in unübersichtlichen Situationen, seine eigene Haut und die Haut des Kameraden zu retten. Und manche Dinge hat man machen müssen im Kriege, die in den Vorschriften nicht vorhanden waren. Das hab‘ ich im Krieg gelernt.“ Mit dieser bedeutungsschwangeren Aussage von Helmut Schmidt, mit der er seinen kaum umstrittenen weil erfolgreichen Bruch vieler Regeln und Gesetze im Februar 1962 begründet, beginnt das Doku-Drama „Die Nacht der großen Flut“ von Raymond Ley (gefördert von der MSH). Der legendäre Ruf des damaligen Hamburger Innensenators Schmidt als tat- und durchsetzungskräftiger Organisator der Hilfe während der Sturmflut im Februar 1962 wurde zum Fundament für seine spätere Karriere. Folgerichtig stehen seine Erinnerungen neben denen der Opfer aus vier Hamburger Familien im Mittelpunkt dieses eindrucksvollen Films. In einer gelungenen Mischung aus Berichten von Zeitzeugen der Opfer- und Helferseite, mit Spielszenen und Dokumentaraufnahmen gelingt es der NDR/Arte-Produktion die Katastrophe (mehr als 10.000 Menschen wurden damals obdachlos, 315 Menschen starben in einer einzigen Nacht, bevor eine beispielhafte Rettungsaktion anlief), die die betroffenen Bewohner und Behörden eiskalt im Schlaf überraschte, vor allem emotional zu veranschaulichen.

Bedrohlich zieht der Sturm auf. Doch alle unterschätzen die Gefahr einer Sturmflut für Hamburg. Das Meer scheint doch beruhigend weit entfernt zu sein. Und so sind auch die kleinbürgerlichen Familien im elbnahen Süden der Hansestadt am Vorabend kaum beeindruckt und beunruhigt von den Vorzeichen der heraufziehenden Katastrophe. In der properen Behelfsheimsiedlung in Hamburg-Wilhelmsburg geht alles seinen gewohnten Gang. Bei Familie Langer wird Kindergeburtstag gefeiert, mit Besuch von Schwester und Schwager amüsiert man sich am Fernseher bei „Familie Hesselbach“. Es wird der letzte gemeinsame Abend, denn später ertrinkt die Ehefrau und Mutter. Bei Familie Brandt wird unbeschwert tapeziert und gemauert. Und auch Horst Sahm, der zur Nachtschicht auf die Werft muss, ahnt nicht, dass er an diesem Abend seine junge Frau und seine beiden Kinder zum letzten Mal lebend sieht. Besonders seine erschütternden Erinnerungen und die einfühlsame Verkörperung durch Florian Lukas in den Spielszenen bleiben neben den Erinnerungen von Gerda Brandt, die von Christiane Paul dargestellt wird, noch lange haften. Seine Fassung, um die Horst Sahm kämpft, wenn er an die tragischen Ereignisse zurückdenkt, und seine nach über 40 Jahren noch immer tiefe Trauer um sein verlorenes Lebensglück beeindrucken und erschüttern.

Verlor sein Lebensglück in den Fluten: Horst Sahm, dargestellt von Florian Lukas (Foto: NFL)

Parallel dazu der Bericht von Gerda Brandt, die mit Mann und drei Kindern im Bett von den nach dem Deichbruch ins Haus schwappenden Fluten überrascht wird, sich binnen kurzem mit der Familie auf dem Dach wieder findet und hilflos miterleben muss, wie im Nachbarhaus Tante Erna um ihr Leben schreit und schließlich ertrinkt. Familie Brandt wird zwar nach langer Wartezeit, in der Gerda und ihr Mann schon mit dem Leben abzuschließen scheinen, doch noch gerettet, zerbricht aber später, nicht zuletzt durch die Erinnerungen an diese grauenhafte Nacht im kalten Februar.

Der zweite dramatische Strang dieses Films ist den Rettungsbemühungen der Hamburger Behörden gewidmet. Zunächst wird das sich immer größer auswachsende Unglück eher hilflos verwaltet. Der Einsatzleiter der Polizei wirkt noch heute hilflos, wenn er von der einsamsten Nacht, die er je erlebt habe, berichtet. Seine Aussage, „Ich trug für alles Verantwortung, was hier geschah und was nicht geschah“, verdeutlicht die verdeckte Ohnmacht, die das Handeln der hanseatischen Behörden fast lähmte, bis der Macher Schmidt mitten in der Nacht endlich von einem Senatsmitarbeiter benachrichtigt wird und die Leitung der Hilfs- und Rettungsaktionen übernimmt. Ulrich Tukur spielt den schneidigen Innensenator, der alle erdenklichen Hilfskräfte inklusive ausländischer Nato-Truppen zusammentrommelt und für Bedenkenträger kein Ohr hat.

Das Grundgesetz nicht unterm Arm aber die große Flut im Griff: Ulrich Tukur als Innensenator Helmut Schmidt (Foto: NFL)

Sogar Oberbürgermeister Nevermann lässt er abblitzen, als ihn dieser nach seinem eigenmächtigen Einsatz der Bundeswehr an Bundeskompetenzen und Grundgesetz erinnert: „Die Menschen brauchen sofort Hilfe, da kann ich doch nicht warten, bis die uns aus Bonn ein Fresspaket schicken. Oder soll ich kurzerhand die Verfassung im Alleingang ändern?“ Lächelnd erzählt Schmidt, er habe in jenen Tagen das Grundgesetz nicht angeschaut. Souverän und mit rhetorischer Bravour schildert er die Geschehnisse aus seiner Erinnerung. Sicherlich dankbar konnte ihn Regisseur Ley so zum die Ereignisse einordnenden Erzähler machen. Und Schmidt erzählt so pointiert und gekonnt als kämen seine Texte aus einem guten Drehbuch. Wirklich beachtlich. (Helmut Schulzeck)

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