9. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide
Kopf-Welten
„Die andere Seite“ (D 2004, Christian Mertens) / „Wie man unsichtbar wird“ (D 2005, Michael Carstens)
Wie etwas von der Bildfläche verschwindet
Eine alte Filmweisheit sagt, ein Film entsteht für den Betrachter nicht auf der Leinwand sondern im seinem Kopf. Erst dort wird das Hintereinander der Bilder in einen für den Zuschauer sinnvollen Zusammenhang gebracht. Das heißt, erst die Gedanken bestimmen, was ist, was war und was sein wird. Der Babelsberger Regiestudent Christian Mertens hat diesen erkenntnis-theoretischen Gedanken in seinem Film „Die andere Seite“ (Gewinner des Augenweide-Preises 2005) zu einem konsequenten Spiel der Möglichkeiten genutzt, bei dem aber das im Nachhinein Erzählte einer Handlung wieder in die Gedanken einer Protagonistin dieser erzählten Handlung einfließen kann und ihr dadurch die Möglichkeit gibt, die Handlung zu ihren Gunsten zu verändern, was dann auch logischerweise Folgen für den Erzähler hat, der auch Beteiligter des Erzählten war.
Zu Beginn des 12-minütigen Kurzfilms wird der Zuschauer mit losen Ausschnitten von Gedanken- und Erzählsplittern aus dem Off irritiert. Erst allmählich kommt etwas mehr Klarheit ins Geschehen. Eine junge Frau fährt mit einem Bus zu einem Banküberfall. Dabei hören wir Teile ihrer Gedanken. Gleichzeitig erzählt ein späterer Zeuge ihrer Tat von dieser – und: Die Frau scheint seinen Bericht in der erzählten Vergangenheit zu hören. Diese spannende Vorgabe setzt sich dann in der Bank fort. Der Augenzeuge sitzt später mit Freundin und Freund in einer Kneipe und berichtet vom vergangenen Banküberfall. Er entwirft praktisch das Geschehen noch einmal vor unseren Augen, und dennoch ist seine Erinnerung nicht Herr der Ereignisse. Sein teilweises vorgreifendes Schildern gibt der Bankräuberin die Möglichkeit, die auch für sie erschreckende Konsequenz ihres Handelns zu erfahren und so dem Gang der Dinge einen anderen Lauf zu geben. Ihre übersinnliche Fähigkeit, späteres vorher in ihrem Gedankenstrom zu erfahren, bringt ihr die Rettung und erübrigt schließlich die Existenz des Augenzeugens und Erzählers. Er wie auch der ganze Vorgang verschwinden im wahrsten Sinne des Wortes von der Bildfläche. Ein verblüffendes, spannendes filmisches Gedankenexperiment, das in der Logik seiner angenommen Übersinnlichkeit funktioniert.
Wie das Erzählen das Erzählte beeinflusst: Mathias Harrebye-Brandt in „Die andere Seite“
Ganz zwanglos neurotisch
Auch der Kurzfilm „Wie man unsichtbar wird“ (10 Min.) von Michael Carstens thematisiert Kopf-Welt und deren Konsequenzen. Er erzählt ganz undramatisch einen unauffälligen Fall einer Alltagsneurose von selbstgewählter Isolation. Ein junger Mann lebt in der Illusion von Treffen zwecks Kontaktaufnahme mit einer erwünschten Freundin bzw. Freund. Doch kommen diese Treffen nicht zu Stande, da er sich seine Verabredungen nur mit an sich selber geschriebenen Postkarten fingiert. Seine Unfähigkeit zu einer realen Kontaktaufnahme wird deutlich, als sich zufällig wirklich eine fremde Frau für ihn zu interessieren scheint. Ein anfänglich vorsichtiger Ansatz für ein längeres Gespräch blockt er schließlich abrupt ab, als sie ihm zu Nahe kommt. Bezeichnenderweise wohnt dieser Mann jedoch in einer Wohngemeinschaft, hat also Kontakte, zumindest am Frühstücktisch, wie der Film zeigt. Dennoch ist er offensichtlich allein. Er erspinnt sich seine Welt. Das scheint ihm zu genügen. (Helmut Schulzeck)