9. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide

Der ganz normale Schrecken

„Kiel im Bombenkrieg“, Dokumentarfilm von Kay Gerdes

Emma Ewert kämpft mit den Tränen und hat Mühe die Fassung zu bewahren, als sie, begleitet von der Kamera, noch einmal durch einen Kieler Hochbunker wandert. Zwar liegen die Schrecken des Bombenkrieges 60 Jahre zurück, aber die Wunden öffnen sich wieder, wenn Kieler Zeitzeugen in Kay Gerdes Dokumentation „Kiel im Bombenkrieg“ sich erinnern.

Gefördert vom Kulturamt der Landeshauptstadt Kiel, der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte und der Kulturellen Filmförderung S.-H. hat Kay Gerdes nicht nur bisher vielfach noch unveröffentlichtes Archivmaterial aus dem Landesfilmarchiv zu einer Chronologie über den Bombenkrieg in und über Kiel zusammengetragen, gut die Hälfte des 52-minütigen Films widmet sich den Erinnerungen derer, die den Bombenkrieg erlebten. Zwar werden diese in der üblichen „Talking Heads“-Technik gezeigt, doch was sie gleichsam ungefiltert erzählen, fördert einen Alltag des ganz normalen Schreckens zu Tage.

Bei 90 Luftangriffen alliierter Bomber wurden zwischen dem 2. Juli 1940 und dem 3. Mai 1945 drei Viertel der Kieler Wohnhäuser zerstört oder beschädigt, verließ jeder zweite Kieler die Stadt und kamen 2.900 Menschen ums Leben, nebst rund 200 Piloten, deren Flugzeuge über Kiel abgeschossen wurden. Der Weltkrieg, den das nationalsozialistische Gewaltregime angezettelt hatte, kam zurück nach Deutschland. Eindrucksvoll schildern in Gerdes‘ Film die Zeitzeugen, wie sie dies erst allmählich begriffen. Die ersten Fliegeralarme nahm noch niemand ernst, aber schon beim ersten Großangriff am 7./8. April 1941 fanden 200 Zivilisten den Tod. Aus den Luftschutzübungen am Anfang des Krieges, die vor allem die damaligen Kinder noch als „eher abenteuerlich“ empfanden, wurde schrecklicher Ernst. Zumal die Luftschutzräume in den Kieler Kellern sich alsbald als unzureichender Schutz vor der zunehmenden Sprengkraft der Bomben erwiesen. Die Zeitzeugen berichten von zum Teil selbst erlebten Verschüttungen, etwa von den 230 Menschen, die beim Angriff am 3. April 1945 im Moltke-Stollenbunker infolge eines Volltreffers starben. Die „vielen leeren Kinderwagen, die vor dem Stollen standen“, sind Lisa Dröge noch in lebhafter Erinnerung.

Überleben konnte man die Bombennächte – und seit 1942 auch -tage – nur, wenn man sich mit dem Schrecken arrangierte, manchesmal mit Galgenhumor, wovon Berichte über skurrile „Schutzmaßnahmen“ zeugen, etwa dass man den Wilhelmsplatz blau angemalt habe, um die Bombernavigatoren zu verwirren. Der allabendliche Gang in den Bunker wurde zur Normalität, die „Bunkertasche“ war immer gepackt. Und im letzten Kriegsmonat verließen viele die Bunker gar nicht mehr. Wenn Rosa Wallbaum am Ende des Films resümiert: „Ich weiß gar nicht, wie man das durchhalten, wie aus uns danach wieder normale Menschen werden konnten“, bleibt nicht nur ihr, sondern auch dem Zuschauer ein Kloß im Halse stecken.

Die Dokumentationen über den 2. Weltkrieg sind dieser Jahrestage auch im Fernsehen Legion. Kay Gerdes reiht seinen Film hier insofern ein, als er das übliche Mittel des Hin- und Herschneidens zwischen Archivmaterial und Zeitzeugenbericht nutzt. Und dennoch gelingt ihm ein Porträt einer Zeit, die den Nachgeborenen geradezu unwirklich erscheint, er zeigt den Krieg als Alltagserfahrung, schrecklich, bestürzend, aber nur „alltäglich“ verarbeitbar. Hoch anzurechnen ist dem Film auch, dass er die Opfer des Bombenkrieges einordnet in den Kontext der Täterschaft. Gegen Ende des Films spricht Emma Ewert das aus. Nein, einen Groll hege sie nicht gegen die Bomberbesatzungen, „dass die uns das angetan haben“. Schon damals sei ihr klar gewesen, dass „schließlich wir den Krieg angefangen haben“. (jm)

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