Grimme Preis 2005 für „Hitlers Hitparade“
Die ZDF/Arte-Produktion „Hitlers Hitparade“ (Produktion C. Cay Wesnik / Redaktion: Alexander Bohr / Buch und Regie: Oliver Axer, Susanne Benze) gewinnt den Adolf-Grimme Preis 2005 in der Sparte „Information und Kultur“.
Begründung der Jury:
Darf man das? Vom „Dritten Reich“ erzählen, ohne sich vor allem auf Auschwitz, die Gestapo, den Krieg zu konzentrieren? Darf man stattdessen die Unterhaltungsmusik der Zeit auflegen und dazu einem meist fröhlichen Bilderbogen von Werbe-, Propaganda-, Trick-, Amateur- und Spielfilmen der Zeit zeigen? Einfach mal „Hitlers Hitparade“ (so der ironisch-böse Titel) als Videoclip dudeln? Anfangs kriegt der Betrachter einen Schreck. Ist die „Hitler-dies“ und „Hitler-das“-Fraktion beim ZDF denn jetzt verrückt geworden – uns das Nazireich als spaßige und richtig schicke, statt als Blut und Jauche aus dem Heimatboden dampfende Angelegenheit zu zeigen? Bei vielen der altmodischen, aber professionellen Unterhaltungssongs wippt man schließlich unwillkürlich mit dem Fuß.
Heute leben wir mit einem Bild vom „Dritten Reich“, das mit dem Bild wenig zu tun hat, das sich die Zeitgenossen vor Kriegsende von ihrer Welt machten. Die überzeugten „Volksgenossen“ sowieso nicht. Doch auch für die vielen Verfolgten bestanden die NS-Jahre natürlich auch aus Alltag. Auch der Kommunist ging mit seiner Freundin abends tanzen und ins Kino. Auch die jüdische Mutter hat sich über fröhliche Musik gefreut und mit dem Fuß gewippt, obwohl sie den Stern schon am Mantel trug.
So kann eine so kühne filmische Collage, wie Oliver Axer und Susanne Benze sie gewagt haben (Redaktion: Alexander Bohr, Produktion: Cay Wesningk), heute kaum noch als Apologie oder Verharmlosung des Nazireichs missverstanden werden. Zumal auch in dieser Film-Collage genug unmissverständliche Bilder des Schreckens enthalten sind, um sicher zu stellen, dass der zweite Film, der des Grauens, im Kopf des Betrachters parallel abläuft. Der Zweifel – „darf man das“ – wird von dem Erkenntnisgewinn hier mehr als aufgewogen. Erreicht wird ein Verständnis der Dinge, das tiefer reicht und weiter geht als die ewige, inzwischen eher abstumpfende als noch informierende oder gar aufrüttelnde Bild- und Rhetorikschleife von Grauen und Anklage.
Musik erreicht uns auf der Ebene des Gefühls, und zwar auf der des positiven Gefühls. Durch die im Zuschauer hierdurch ausgelöste Ambivalenz, durch das überraschende und unheimliche Gefühl einer Zeitgenossenschaft mit der Täter-, Mitläufer- und Opfergeneration wird „Hitlers Hitparade“ zur hochspannenden Irritation. Der heutige Betrachter wird aus seiner trügerischen Sicherheit gerissen, er wisse über alles längst bestens Bescheid. Diesen starken Effekt erreicht der Film nur mit Musik und Bild, ohne gesprochene Kommentare. Das bemerkenswert wenig „verbrauchte“ Archivmaterial ist kunstvoll und überraschend montiert. Bilder, Musik und die Texte der Lieder kommentieren sich wechselseitig, mal konterkarierend, mal bestätigend. Darf man das? Die Antwort heißt: Womöglich muss man es sogar.