55. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2005
Character Driven: US-Filme im Panorama
Die Auswahl an nordamerikanischen Produktionen in der Panorama-Sektion ist traditionell aus den Brunnen der US-Independents geschöpft. Alle paar Jahre tauchen aus diesen Quellen auch neue Talente und aufregende Filme auf, meist kündigen sich diese auch auf dem wichtigsten Independent-Event, dem von Robert Redford 1981 gegründeten Sundance Festival an. Von Steven Soderberghs „Sex, Lies and Video Tape“ über Tarantinos „Reservoir Dogs“, P. T. Andersons „Hard Eight“ bis zu Deren Aronofskis „Pi“ waren die Regisseure Gewinner des Festivals oder haben im berühmten Filmmakers Workshop ihre Filme mit Hilfe namhafter Filmemacher vorbereiten können.
Und auf der Berlinale eilt solcher Ruf den Filmen voraus: Sundance-Gewinner, Publikumsliebling, Geheimtipp etc. Davon war dieses Jahr nichts zu hören, obwohl mit „Forty Shades on Blue“ der Gewinner des Hauptpreises im Programm war. Und in der Tat präsentierten sich Filme von eher zurückhaltender, teilweise introvertierter Natur, was bei amerikanischen Filmen zunächst befremdlich anmutet, erwartet man doch meist ein „larger than life“-Szenario. Eine Nähe zum europäischen Film war indes nicht zu übersehen. „Character driven“ sagt der Amerikaner und meint, der Film sei nicht handlungsbetont, sondern lebe von den Figuren. Als „Weepie“ würde der Produzent aus „The Dying Gaul“ manchen der Filme kategorisieren und damit Dramen meinen, womöglich mit geringer Aussicht auf kommerziellen Erfolg. Gemeinsam war den US-Filmen die Familie als das zentrale Thema, doch so unterschiedlich die Konflikte, so vielfältig die Geschichten.
Rebecca Miller, Tochter des kürzlich verstorbenen Autors Arthur Miller, drehte mit „The Ballad of Jack and Rose“ eine einfühlsame und ungewöhnliche Vater-Tochter Beziehung, eingebettet in ein Szenario um alte Kommunarden und gierige Bauunternehmer.
Daniel Day-Lewis und Rebecca Miller
Vater Jack, ein wehrhafter Alt-Hippie, gespielt von Millers Ehemann Daniel Day-Lewis, ist schwer krank und holt seine Geliebte samt ihren beiden Söhnen in die nur noch von ihm und seiner 16-jährigen Tochter Rose bewohnte ehemalige Strandhaus-Kommune. Rose reagiert eifersüchtig und schreckt auch nicht vor körperlichen Opfern zurück, um die Nebenbuhlerin um die Gunst ihres Vaters wieder aus dem Haus zu kriegen. Jack verzweifelt fast an seiner ökologischen Mission und glaubt sich gescheitert. Aber er kann gewiss sein, dass er eine Tochter erzogen hat, die ebenso starrsinnig und charakterfest ist wie ihr Vater. Der Film kommt etwas schleppend in die Gänge, man vermutet zunächst ein politisch korrektes Öko-Drama, doch die Figuren überzeugen, was den hervorragend spielenden Darstellern zu danken ist.
„The Dying Gaul“, das Regiedebut von Drehbuch- und Theaterautor Craig Lucas, kommt mit einer etwas verworrenen Geschichte um einen jungen, schwulen Drehbuchautoren, einen bisexuellen Hollywood-Produzenten sowie seiner sensibel-intellektuellen Frau daher.
Regisseuer Craig Lucas
Was wie eine Satire auf das Hollywood-Business beginnt, verkehrt sich bald in eine seltsame Mischung aus Menage à troi und Psycho-Thriller mit unbefriedigendem Ausgang. Keines der Themen wird ausreichend durchleuchtet, Humor Fehlanzeige, hastiges Ende.
Dagegen begeisterte „Transamerica“ das Berlinale-Publikum zu recht. Duncan Tucker, ebenfalls Regiedebutant, erzählt die Geschichte der Transsexuellen Bree, die kurz vor ihrem operativen Eingriff erfährt, dass sie einen Sohn, Toby, im Teenageralter hat, der in Jugendhaft sitzt. Ihre Psychiaterin verweigert ihr die notwendige Einwilligung zur Operation, wenn sie sich der neuen Situation nicht stellt, und sich zumindest zeitweilig des Jungen annimmt. Unwillig, ihre Vater/Mutterschaft anzutreten, aber gezwungen den Jungen aus der Haft zu holen, macht sich Bree nach New York auf. Toby hält sie für eine Missionarsschwester, ein Irrtum, den Bree nicht aufklärt.
Auf der Berlinale gefeiert: Regisseur Duncan Tucker (Mitte) mit den Darstellern Kevin Zegers und Fionnula Flanagan
Toby will nach L.A., um dort im Porno-Business zu arbeiten und seinen verschollenen Vater zu finden. Bree hofft, dass sie Toby auf dem Weg dorthin bei seinem Stiefvater absetzen kann. Es beginnt ein Roadmovie quer durch die USA, absurde Situationen und Gefühlsverwirrungen sind vorprogrammiert.
Sein wunderbares Drehbuch setzt Regisseur Duncan formal uneitel um und räumt die Bühne für sein fantastisches Ensemble, allen voran Felicity Huffman, die zwischen der Euphorie der bevorstehenden Geschlechtsumwandlung, der nervenzehrenden Begegnung mit ihren Eltern und der Sorge um ihren sich prostituierenden Sohn changiert und einen vielschichtigen, lebendigen Charakter entwirft. Absolut sehenswert, hoffentlich findet sich ein deutscher Verleih.
„Forty Shades of Blue“ gewann beim diesjährigen Sundance Festival den Hauptpreis, das Drehbuch entstand mit Hilfe des Sundance Screenwriters Lab. Autor Ira Sachs präsentiert ein in gedeckten Farben gehaltenes Kammerspiel, eine Dreiecksgeschichte um die fiktive Musik-Produzenten-Legende Alan James, seine junge russische Geliebte Laura und seinen Sohn Michael.
Dina Korzu, Darstellering der Laura (Fotos: Berlinale)
Michael hat nie verwunden, dass er für seinen Vater immer an zweiter Stelle nach dessen Produzentenkarriere stand. Seine offene Feindseligkeit erstreckt sich aber auch auf Laura, die von Alan ebenso wie ein edles Accessoire behandelt wird. Michael und Laura beginnen ein Verhältnis.
Die Charakterzeichnung der Figuren kommt ohne Klischees aus, Sachs nutzt die Locations der Musikmetropole Memphis geschickt, um die Verzweiflung der Protagonisten in Szene zu setzen. Rip Torn glänzt als selbstherrlicher Patriarch über seine (Musik-) Familie, der Sohn und Geliebte an seiner Egozentrik verzweifeln lässt. Sehenswertes Schauspieler-Kino. (dakro)